Die Rolle der Haltung in der Selbstverteidigung

Ein Überblick zur Studienlage

„Kopf hoch, Brust raus, aufrechter Stand“, denn

    1. dann siehst du nicht aus wie ein Opfer
    2. dann wirst du wahrscheinlich kein Opfer
    3. dann fühlst du dich vielleicht nicht wie ein Opfer
    4. das spielt gar keine Rolle, du kleines Opfer.

So, also es gibt einige wissenschaftliche Studien, die sich mit dem Zusammenhang zwischen Körperhaltung und dem Risiko, Opfer von Überfällen, Belästigungen und Angriffen zu werden, beschäftigen. Allerdings geht es hier um Menschen, Wahrnehmung und Verhalten, wird also ne tricky Kiste und wie immer gibt es kaum pauschale Antworten. Es ist also schwierig, eine eindeutige Aussage zu treffen. Grund dafür: Es gibt viele verschiedene Faktoren, die das Risiko für solche Ereignisse beeinflussen können.

Aber es gibt auch einige zielführende Studien, die gezeigt haben, dass Menschen, die eine aufrechte und selbstbewusste Körperhaltung einnehmen, weniger wahrscheinlich Opfer von Überfällen oder Belästigungen werden als solche, die eine unsichere oder ängstliche Körperhaltung einnehmen. Eine aufrechte Haltung kann signalisieren, dass man selbstbewusst und stark ist und weniger leicht zu manipulieren oder zu bedrohen ist.

Allerdings gibt’s halt auch Studien, die gezeigt haben, dass diese Wirkung nicht direkt kausal besteht, sondern so manche Einflussgrößen einerseits die gefährliche Situation konstruieren, andererseits direkt für die entsprechende Haltung sorgen. Soviel sei bereits jetzt gesagt: Die Haltung ist nicht der Anfang, sondern bereits ein Ergebnis mehrerer Faktoren. Wenn man nur an diesem Ergebnis schraubt, dann ändert das noch nicht dessen Ursache, die dann die gesamte Situation beeinflussen kann.

Und dann gibt es natürlich auch Gefüge, in denen die Haltung absolut nichts beeinflusst. Zum Beispiel können Opfer von sexuellen Übergriffen oder Belästigungen oft gar keinen Einfluss auf das Verbrechen vermittels ihrer Haltung nehmen, da es meistens von Personen begangen wird, die sie kennen oder denen sie vertrauen.

A. Dann siehst du nicht aus wie ein Opfer.

Crane, M. F. & Rindal, K. E. (1978). Body posture as an indicator of victim vulnerability. Journal of Communication, 28(4), 76-81.

Die Studie von Crane und Rindal (1978) untersuchte, ob die Körperhaltung von Personen als Indikator für ihre Verletzlichkeit gegenüber aggressivem Verhalten anderer Personen dienen kann. Sie wurde an der University of Wisconsin durchgeführt mit einer Probandengruppe, aus 40 männlichen und weiblichen Studierenden im Alter von 18 bis 22 Jahren. Die Teilnehmer wurden nach dem Zufallsprinzip ausgewählt und in zwei Gruppen aufgeteilt. Eine Gruppe bestand aus 20 Personen, die als „Opfer“ bezeichnet wurden, während die andere Gruppe aus 20 Personen bestand, die als „Aggressoren“ bezeichnet wurden.

Die „Opfer“-Gruppe wurde angewiesen, eine Körperhaltung einzunehmen, die als „verletzlich“ oder „schwach“ angesehen wird, wie zum Beispiel das Beugen des Kopfes, das Senken der Schultern und das Herunterhängen der Arme. Die „Aggressoren“-Gruppe wurde angewiesen, eine Körperhaltung einzunehmen, die als „dominant“ oder „stark“ angesehen wird, wie zum Beispiel das Aufstellen der Schultern und das Hochheben des Kinns.

Die Teilnehmer wurden dann gebeten, jeweils fünf Minuten lang in dieser Körperhaltung zu verharren, während sie von einem Forschungsassistenten fotografiert wurden. Die Fotos wurden dann von einer Gruppe unabhängiger Beobachter bewertet, die die Verletzlichkeit oder Stärke der Teilnehmer anhand ihrer Körperhaltung beurteilten. Leider geht aus der Studie nicht hervor, was das für Beobachter waren, aber ihre Eigenschaft als „unabhängig“ weist in der Regel darauf hin, dass sie einerseits in keiner Beziehung zu Teilnehmern und Studienleitenden standen, andererseits den Studienaufbau nicht erkennen konnten. Also halbwegs verblindet.

Die Ergebnisse der Studie zeigten jedenfalls, dass die Beobachter die Teilnehmer der „Opfer“-Gruppe als signifikant verletzlicher und schwächer als die Teilnehmer der „Aggressoren“-Gruppe wahrnahmen, basierend auf ihrer Körperhaltung. Die Autoren schlossen daraus, dass die Körperhaltung als ein wichtiger Hinweis auf die Verletzlichkeit einer Person dienen kann, und dass die bewusste Anpassung der Körperhaltung einer Person dazu beitragen kann, ihre Verletzlichkeit zu reduzieren. Also gute Nachrichten für Antwort a). Offensichtlich sieht man weniger aus wie ein Opfer, wenn man die Haltung an den Prototypen „unverletzlich“ anpasst.

Ich würde noch bescheiden anmerken wollen, dass, dass diese Studie in ihrer Stichprobengröße extrem begrenz ist. 40 Teilnehmer ist aus wissenschaftlicher Sicht gar nichts und dass sie nur an Studierenden durchgeführt wurde, ist auch ne richtig fette Schwäche. Man würde als Wissenschaftler konstituieren, dass diese Studie deswegen „möglicherweise nicht auf die Gesamtbevölkerung übertragbar ist und weitere Forschung erforderlich ist, um ihre Ergebnisse zu bestätigen.“

B. Dann wirst du wahrscheinlich kein Opfer

Felson, R. B., & Steadman, H. J. (1983). Situational factors in disputes leading to criminal violence. Criminology, 21(1), 59-74.

Hier kommt nun die Grenze dieser Chance. Also alles gut und wichtig mit der Haltung und so, aber es gibt ein weeeesentlich gewichtigeres Gegengewicht in der sozialen Wirklichkeit unserer Welt. Und die Kollegen Felson und Steadman haben sich die mal 1983 angeguckt. Ihre Studie untersuchte die Auswirkungen von situativen Faktoren auf Auseinandersetzungen, die zu krimineller Gewalt führen. Sie betrachteten also äußere Einflussgrößen im Gegensatz zur vorherigen Studie, die sich auf solche Faktoren bezog, die das Individuum auf Opferseite ausmachte. Diese hier wurde an der University of Illinois durchgeführt.

Die Probandengruppe bestand aus 684 männlichen Gefangenen, die im Bundesgefängnis von Lewisburg, Pennsylvania, inhaftiert waren. Die Teilnehmer wurden nach dem Zufallsprinzip ausgewählt und in drei Gruppen aufgeteilt. Eine Gruppe bestand aus 214 Insassen, die wegen Mordes inhaftiert waren, eine weitere Gruppe aus 237 Insassen, die wegen Raubes inhaftiert waren, und die dritte Gruppe aus 233 Insassen, die wegen Drogenhandels inhaftiert waren. Schwere Jungs, aber mit klar distinktiven Merkmalen. Die Studie nutzte eine Kombination aus Interviews und Beobachtungen, um Daten zu sammeln. Die Forscher führten Interviews mit den Teilnehmern durch, um Informationen über ihre Vorstrafen, soziodemografischen Hintergrund (also aus was für ner Hood die so kamen) und das Vorhandensein von Substanzmissbrauch oder psychischen Erkrankungen zu sammeln. Die Forscher führten auch Beobachtungen im Gefängnis durch, um Informationen über die Umstände von Auseinandersetzungen und Gewalttaten zu sammeln.

Die Forscher analysierten dann die gesammelten Daten, um festzustellen, welche situativen Faktoren zu Auseinandersetzungen und krimineller Gewalt führten. Die untersuchten Faktoren umfassten die

  1. Verfügbarkeit von Waffen,
  2. die Anzahl der beteiligten Personen,
  3. die Anwesenheit von Alkohol oder Drogen,
  4. die Art des Konflikts und
  5. die Positionierung der Beteiligten zueinander.

Um es kurz zu machen, die Ergebnisse der Studie zeigten, dass bestimmte situative Faktoren, wie z.B. der Einsatz von Waffen, die Anwesenheit von Alkohol oder Drogen und die Art des Konflikts, die Wahrscheinlichkeit von Auseinandersetzungen und krimineller Gewalt massiv erhöhten. Die Ergebnisse zeigten auch, dass das Vorhandensein von mehreren dieser Faktoren zu einem höheren Risiko für Gewalt führte. Und das mit jeweils sehr, sehr klaren Ergebnissen.

Abstrahieren wir das ein paar Grad, können wir durchaus annehmen, dass es einerseits wesentlich mehr Einflussfaktoren als Haltung, Gestik und Mimik gibt, die gewaltfördernd wirken und dann diese Faktoren eine vermutlich direktere Wirkung auf die Vorhersagbarkeit gewalttätigen Handelns haben.

Fettes Aber: Diese Stichprobe war auf männliche Gefangene in einem Bundesgefängnis beschränkt. Das macht ihre Ergebnisse einerseits nicht übertragbar auf die allgemeine Bevölkerung, weil es dort auch andere Geschlechter gibt – aktuell mehr denn je – aber andererseits ist der amerikanische Schwerverbrecher an sich nicht unbedingt der Durchschnittscharakter. Milieusalienz, also in welchen Kreisen man sich so umgibt, ist eine ganz entscheidende Disposition, wenn Gewalt ein Thema ist. Also auch diese Studie bitte mir ein wenig Salz genießen.

C. Dann fühlst du dich vielleicht nicht wie ein Opfer

Cramer, P. (1990). Body posture and emotions. Journal of Rational-Emotive and Cognitive-Behavior Therapy, 8(3), 219-235. doi: 10.1007/BF01065873

Jetzt trainieren wir Selbstverteidigung ja nicht nur für das direkte Lagemanagement, sondern erhoffen uns bisweilen auch einen Zugewinn im generellen Auftreten, dem persönlichen Sicherheitsempfinden und ich glaube, manche möchten damit sogar ihre Fitness erhöhen. Ohne dem nächsten Kapitel direkt vorzugreifen, würde ja – so die landläufige Annahme – ein besseres Selbstempfinden auch ein sichereres Auftreten begünstigen und mit Rückgriff auf die erste angeführte Studie damit auch die Wahrscheinlichkeit erhöhen, nicht als Opfer wahrgenommen zu werden. Kannst du mir folgen?

Wie untersucht man das jetzt klinisch? Cramer hat’s gemacht. In einer Studie von 1990 wurden insgesamt 110 Studierende rekrutiert, von denen 58 Frauen und 52 Männer waren. Das Durchschnittsalter der Probanden betrug 23,4 Jahre. Die Studierenden wurden zufällig in eine von vier Gruppen eingeteilt: aufrechte Körperhaltung, gesenkte Körperhaltung, aufrechte Körperhaltung mit Anweisung, sich stark und mächtig zu fühlen, und gesenkte Körperhaltung mit Anweisung, sich traurig und schwach zu fühlen.

In der ersten Sitzung wurden die Probanden über die Zwecke und die Vorgehensweise der Studie informiert und haben zugestimmt, daran teilzunehmen. In der zweiten Sitzung wurden sie aufgefordert, eine der vier verschiedenen Körperhaltungen einzunehmen und diese für 20 Sekunden beizubehalten. Anschließend wurden sie gebeten, einen Fragebogen auszufüllen, der ihre aktuellen Emotionen bewertete.

Die Probanden sollten angeben, wie sie sich momentan fühlten, indem sie eine Skala von 1 bis 10 verwendeten, wobei 1 für „sehr traurig“ und 10 für „sehr glücklich“ stand. Darüber hinaus wurden sie gebeten, ihre aktuelle Stimmung mit Begriffen wie „verängstigt“, „selbstbewusst“, „gestresst“ und „zufrieden“ zu beschreiben.

Die Ergebnisse zeigten, dass die Probanden in der aufrechten Körperhaltung mit Anweisung, sich stark und mächtig zu fühlen, signifikant höhere Werte bei positiven Emotionen wie Selbstvertrauen und Stärke aufwiesen als diejenigen in der gesenkten Körperhaltung mit Anweisung, sich traurig und schwach zu fühlen. Die Ergebnisse legen nahe, dass Körperhaltung und Emotionen miteinander verbunden sind und dass eine aufrechte Körperhaltung mit positiven Emotionen assoziiert ist, während eine gesenkte Körperhaltung mit negativen Emotionen assoziiert ist. Mit anderen Worten: Fake it and you make it. Das Verhalten schlägt nach unerwartet kurzer Zeit ins Empfinden durch. Es geht also auch rückwärts. Kleiner Fun Fact für gute Selbstschutztrainer: Dieser Effekt wird vermutlicherweise auch der Grund dafür sein, dass selbst richtig schlechtes Training für viele Personen „funktioniert“ solange sie keine Erfahrung mit Gewalt machen müssen. Ohne Referenzwert bleibt die eigene Rückkopplung das Bewertungsparadigma und das Pratzenhauen zu Musik wird als mächtiger Zuwachs der eigenen Selbstwirksamkeit bewertet.

D. Das spielt gar keine Rolle, du kleines Opfer

Krähe, B., & Fuss, U. (2002). Influence of affective stimuli on postural control in humans. Neuroscience Letters, 328(2), 145-148.

Ich habe eingangs erwähnt, dass Haltung eher eine Wirkung an sich, quasi ein Symptom ist, eher als eine Ursache. Wir haben zwar gerade gelernt, dass man sie auch rückwärts mit Verhalten, zumindest kurzfristig, beeinflussen kann, aber das gilt vor allem für die akute Stimmung. Ein Level tiefer liegt unsere Persönlichkeit. Um es in einem Bild zu beschreiben: Stell dir vor, es regnet den ganzen Vormittag, Das ist das aktuelle Wetter. Aber später kommt die Sonne wieder raus und es wird insgesamt ein schöner Tag. In Bezug auf die Empfindungsarchitektur unserer Psyche könntest du das Wetter mit der Stimmung vergleichen. Die Persönlichkeit, die wäre hier so etwas wie eine Klimazone. Gutes Wetter in den Tropen ist etwas anderes als gutes Wetter im Polargebiet. Störungsbilder sind hier mal weggelassen, aber es gibt eine Persönlichkeitseigenschaft, die nennt man Neurotizismus. Das ist quasi, unabhängig von deiner aktuellen Stimmung, deine Neigung zu emotionaler Instabilität und Verletzlichkeit.

Krähe und Fuss (kein Witz) haben 2002 den Einfluss von affektiven Reizen auf die Körperhaltung von Probanden untersucht. Dabei wurden Probanden in zwei Gruppen eingeteilt: eine Gruppe mit hoher neurotizistischer Ausprägung und eine Gruppe mit niedriger neurotizistischer Ausprägung. Die Studie hatte ein experimentelles Design mit zwei unabhängigen Variablen: Reizbedingung (positiv, negativ, neutral) und Neurotizismus (hoch, niedrig) – Erklärung: eine hohe neurotizistische Ausprägung bedeutet, man neigt eher zu Kränkung und Verletzlichkeit, ist also tendenziell anfälliger für negative emotionale Zustände wie Angst, Depression und Unruhe als mit einer niedrigen Ausprägung.

Die Probanden wurden gebeten, eine aufrechte und selbstbewusste Körperhaltung einzunehmen und zu halten. Währenddessen wurden ihnen Bilder in positiver, negativer und neutraler Stimmung gezeigt, um affektive Reize auszulösen. Die Reize wurden in einer zufälligen Reihenfolge präsentiert.

Die Körperhaltung der Probanden wurde währenddessen durch eine Videokamera aufgezeichnet und später von unabhängigen Gutachtern bewertet. Die Gutachter bewerteten die Körperhaltung hinsichtlich der Ausprägung von Selbstbewusstsein und Anspannung.

Die Ergebnisse zeigten, dass die Probanden in der positiven Reizbedingung eine signifikant selbstbewusstere Körperhaltung einnahmen als in der negativen oder neutralen Reizbedingung. Die Gruppe mit hoher Neurotizismus wies insgesamt eine geringere Ausprägung von Selbstbewusstsein auf als die Gruppe mit niedriger Neurotizismus, unabhängig von der Reizbedingung.

Die Studie zeigt natürlich das Erwartbare, dass affektive Reize eine Auswirkung auf die Körperhaltung haben. Aber eben auch, dass die Ausprägung von Neurotizismus eine Rolle bei der Wahrnehmung und Einflussnahme auf die Körperhaltung spielt. Mit anderen Worten, der Charakter zeigt sich in der Haltung und damit wäre es wohl zu kurz gegriffen, lediglich an der Haltung zu arbeiten.

Fazit ist klar

Natürlich können A) – D) im Einzelfall zutreffen. Für den Trainer bietet das einerseits die Chance zu sagen „Ich hab das doch schon immer gesagt“, andererseits könnte man auch in jedem dieser Punkte einen Zugang in sinnstiftendes Training finden. Hier kommt also der Knaller: Der gute Trainer kann sowohl an der Haltung seines Klienten arbeiten, dessen soziales Gefüge positiv beeinflussen, seinen Selbstwert steigern und bisweilen den Charakter ein wenig feilen. Der Mensch, also auch dessen Psyche, passt sich nämlich an und bietet enorme Chancen für Entwicklung. Ran an die Arbeit.

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