Manchmal ist meditieren über Gewalt einfach nicht genug
Gepostet am 14. März 2023 von Tobias Brodala
Warum beschäftige ich mich überhaupt damit?
Mein guter Freund Stefan hat sich unlängst bemüht, ein akademisches Äquivalent zu Rory Millers Einteilung in soziale und asoziale Gewalt aufzustellen. Dabei wurde relativ schnell offensichtlich, dass diese Einteilung recht beliebig von Herrn Miller vorgenommen wurde und einem wissenschaftlichen Diskurs nicht standhält. Warum das so ist und wie eine pragmatische Alternative aussehen kann, ist Ziel dieses Artikels.
Um was es bei Rory Miller überhaupt geht
Rory Miller ist ein ehemaliger Strafverfolgungsbeamter und bezeichnet sich selbst als Sicherheitsexperten. Darunter fasst er seine Spezialisierung auf Gewaltprävention und -bewältigung. Wie eingangs erwähnt, nimmt er in seinen Büchern eine Einteilung von Gewaltstraftaten in soziale und asoziale Gewalt vor. Zunächst möchte ich diese Einteilung kurz zusammenfassen, damit sie auch dem nicht Miller-kundigen Leser verfügbar ist.
Soziale Gewalt bezieht sich nach Miller auf Gewalt, die in der Regel im Rahmen von sozialen Interaktionen auftrete und in der Regel von solchen Menschen ausgehe, die in unserer Gesellschaft als „normal“ angesehen werden. Diese Art von Gewalt könne verbal oder nonverbal sein und umfasse Dinge wie Bedrohungen, Beleidigungen, Ausgrenzung oder Einschüchterung. Diese Art von Gewalt entstehe aus sozialen Beziehungen zwischen Menschen. Sie könne zum Beispiel auftreten, wenn zwei Freunde in einen Streit geraten oder ein Ehepaar sich streitet. Bei sozialer Gewalt sei das Ziel oft nicht, jemanden zu verletzen oder zu töten, sondern Konflikte zu lösen oder eine Hierarchie aufrechtzuerhalten.
Asoziale Gewalt beziehe sich im Gegensatz dazu auf Gewalt, die von Personen ausgeübt werde, welche als „sozial unangepasst“ oder „kriminell“ angesehen würden. Diese Art von Gewalt sei oft impulsiver und physischer und umfasse Dinge wie Raubüberfälle, Schlägereien oder sexuelle Übergriffe. Sie entstehe aus fehlenden sozialen Beziehungen zwischen Menschen und trete auf, wenn eine Person eine andere Person angreift, ohne eine Beziehung zu ihr zu haben, zum Beispiel in einem Raubüberfall. Das Ziel sei oft, etwas zu stehlen oder die Kontrolle über eine Situation zu gewinnen.
Miller argumentiert, dass es wichtig sei, zwischen diesen beiden Arten von Gewalt zu unterscheiden, da sie unterschiedliche Ursachen, Merkmale und Bewältigungsstrategien erfordern. Die Prävention und Bewältigung von sozialer Gewalt erfordere oft eine Stärkung der sozialen Fähigkeiten und eine Verbesserung der Kommunikation, während die Prävention und Bewältigung von asozialer Gewalt oft eine Veränderung der Umgebung oder verbesserte Sicherheitsmaßnahmen verlange.
Um es ganz anschaulich zu machen, würde beispielsweise ein Streit zwischen Freunden mit sozialer Gewalt enden, wenn sie sich gegenseitig schlagen und dann gemeinsam einen Drink nehmen, um die Spannungen abzubauen. Ein Überfall auf einen Fremden hingegen wäre ein Beispiel für asoziale Gewalt.
Miller, R. (2008). Meditations on violence: A comparison of martial arts training & real world violence. YMAA Publication Center.
Miller, R. (2012). Facing violence: Preparing for the unexpected. YMAA Publication Center.
Entering Sozialwissenschaften
Im sozialpsychologischen Sinn bezieht sich soziale Gewalt nämlich auf solche Formen von Gewalt, die durch soziale Interaktionen, Machtverhältnisse und kulturelle Normen geprägt sind. Es handelt sich dabei um subtile Formen von Gewalt, die oft nicht als solche erkannt werden und das Selbstwertgefühl, die Identität und das Wohlbefinden von Personen beeinträchtigen können. Die Perspektive ist quasi eine andere. Sie liegt nicht wie bei Miller auf dem Tatsubjekt, sondern dem soziokulturellen Zusammenhang der Tat und dessen Wirkungsweise. Ein Beispiel für soziale Gewalt ist die stereotype Darstellung von Menschen aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit oder des Geschlechts. Das kann zu Vorurteilen, Diskriminierung und Stigmatisierung führen. Ein weiteres Beispiel ist die Verwendung von Ausgrenzung und Mobbing in Gruppen oder Organisationen.
Ich biete hier noch einen Artikel zur Erweiterung von Staub an, der die verschiedenen Rollen beschreibt, die Menschen in Gewaltsituationen einnehmen können, einschließlich der Rolle von Tätern, Opfern und Zuschauern. Er untersucht darin die sozialpsychologischen Prozesse, die zu Gewalt führen können. Es werden auch Strategien zur Verhinderung von Gewalt und zur Förderung von Heldentum und Zivilcourage diskutiert.
Staub, E. (2011). The psychology of bystanders, perpetrators, and heroic helpers. In S. T. Fiske, D. T. Gilbert, & G. Lindzey (Eds.), Handbook of social psychology (pp. 469-500). Wiley.
Der Begriff „asozial“ wird im sozialpsychologischen Sinn normalerweise vermieden, da er eine abwertende Konnotation hat und oft verwendet wird, um Menschen zu stigmatisieren, die sich nicht an soziale Normen halten. Damit wäre die Verwendung dieses Begriffs ironischerweise soziale Gewalt. Stattdessen wird der Begriff „antisozial“ oder „dissozial“ verwendet, um Verhaltensweisen und Merkmale zu beschreiben, die gegen soziale Normen verstoßen, andere Menschen beeinträchtigen oder schädigen und die Rechte anderer Menschen verletzen. Es wird auch als Verhalten bezeichnet, das gegen die Gesetze und Regeln der Gesellschaft verstößt. Dabei kann antisoziales Verhalten eine Vielzahl von Formen annehmen, einschließlich Kriminalität, Gewalt, Missbrauch, Diebstahl, Lügen und Manipulation. Es wird oft mit einer Unfähigkeit in Verbindung gebracht, Empathie zu empfinden, Verantwortung zu übernehmen oder Reue zu zeigen. Um es ganz simpel auszudrücken: Antisoziale Gewalt würden wir im Alltag einfach Gewalt nennen.
In der sozialpsychologischen Forschung wird in diesem Spektrum untersucht, welche Faktoren dazu beitragen, dass Menschen antisoziales Verhalten zeigen, und wie man diesen Trend umkehren kann. Insofern macht die psychologische Bezeichnung von Verhalten als antisozial eher ein Forschungsfeld auf, das über Gewalt hinausgeht. Es gibt darin auch eine Betonung der Prävention, die sich auf die Förderung von Empathie, sozialer Kompetenz und der Fähigkeit zur Selbstkontrolle konzentriert.
Auch, wenn das für viele vermutlich offensichtlich ist, ist es mir wichtig noch mal zu betonen, dass antisoziales Verhalten nicht immer das Ergebnis einer psychischen Störung ist. Viele Menschen zeigen antisoziales Verhalten aufgrund von Umweltfaktoren wie Armut, Missbrauch oder Vernachlässigung. Daher ist es wichtig, einen holistischen Ansatz zu verfolgen, um antisoziales Verhalten zu verstehen und zu verhindern.
Moffitt, T. E., & Caspi, A. (2001). Childhood predictors differentiate life-course persistent and adolescence-limited antisocial pathways among males and females. Development and Psychopathology, 13(2), 355-375.
Farrington, D. P. (2005). The integrated cognitive antisocial potential (ICAP) theory. In D. P. Farrington (Ed.), Integrated developmental and life-course theories of offending (pp. 73-92). Transaction Publishers.
Glenn, A. L., & Raine, A. (2014). Neurocriminology: implications for the punishment, prediction and prevention of criminal behaviour. Nature Reviews Neuroscience, 15(1), 54-63.
Funktionale Probleme bei Miller
Zusätzlich zu dem Problem der Begrifflichkeiten, das hier vermutlich eher den Theoretiker abholt, gibt es allerdings auch vehemente Kritik an der Einteilung von Rory Miller und die bezieht sich auf die Ebene der Funktionalität jener Unterscheidungen zwischen sozialer und a(nti)sozialer Gewalt.
In einem Artikel von Dr. Alexis Artwohl, einer Expertin für polizeiliches Verhalten und Gewaltprävention, wird argumentiert, dass Millers Begrifflichkeit zu simpel sei und dass es oft schwierig sei, zwischen sozialer und asozialer Gewalt zu unterscheiden. Artwohl schlägt vor, dass es sinnvoller wäre, die Motivation des Täters zu berücksichtigen und Gewalt als „instrumentell“ oder „expressiv“ zu klassifizieren (Artwohl, 2011).
Dr. Jaclyn Schildkraut ist eine Expertin für geplante Mehrfachtötungen und verdeutlicht in ihrem Artikel ebenfalls, dass die Unterscheidung zwischen sozialer und asozialer Gewalt unnötig kompliziert sei und dass es wichtiger sei, die zugrundeliegenden Faktoren wie Motivation und Umstände zu verstehen (Schildkraut, 2018).
Der Experte für Gewaltprävention und Kriminalität, Dr. Randy Borum, setzt sich in einem Artikel dafür ein, dass die Unterscheidung zwischen sozialer und asozialer Gewalt zu stark vereinfacht sei und dass es andere Faktoren gebe, die berücksichtigt werden müssen, wie z.B. die Dynamik von Gruppen und die sozialen und kulturellen Kontexte von Gewalt (Borum, 2012).
In einem Artikel von Dr. Benjamin Saunders, einem Experten für psychologische Traumabehandlung, wird argumentiert, dass die Unterscheidung zwischen sozialer und asozialer Gewalt zu stark auf die Absichten des Täters fokussiere und vernachlässige, dass Gewalt oft eine komplexe Interaktion zwischen Täter und Opfer ist (Saunders, 2015).
Artwohl, A. (2011). The Problem with Categories: What Law Enforcement and Society Can Learn from the Social Sciences about Categorization of Offenders and Crimes. FBI Law Enforcement Bulletin, 80(5), 20-25.
Borum, R. (2012). Not Everything That Counts Can be Counted: Analyzing the Social Significance of Antisocial Behavior. Journal of Threat Assessment and Management, 1(2), 93-104.
Saunders, B. E. (2015). Antisocial Violence: The Social/Asocial Violence Distinction Revisited. Journal of Aggression, Maltreatment & Trauma, 24(7), 786-803.
Schildkraut, J. (2018). What’s in a Name? The Distinction between Social and Antisocial Violence. Journal of Aggression, Conflict and Peace Research, 10(3), 147-156.
Tatsächlich messe ich diesen Kritiken einigen Wert bei. Denn einerseits verweisen sie darauf, dass die Vorgehensweise von Rory Miller zu simpel ist, d.h. sie adressiert die Wirklichkeit nicht in einem geeigneten Umfang, um wirklich Aussagekraft zu haben. Sie lässt enorm wichtige Arbeitsbereiche vermissen und damit auch die Chance, sich auf entsprechende Konflikte planmäßig vorzubereiten. Andererseits führt eine per-se Einteilung von Gewaltformen im Vorfeld der Lage naturgemäß zu bisweiligen Fehleinschätzungen. So kann eine Verhaltensirritation, das zunächst wie einvernehmlich widerständiges Liebesspiel von Sexualpartnern anmutet, durchaus in einem der schlimmsten Eingriffe in die Selbstbestimmung eines Menschen enden.[1] Für mich stellt sich daher der ausdrückliche Verzicht auf diese Unterscheidung als eine sinnvolle Alternative dar. Sie führt wie ausgeführt in die Irre und beantwortet entscheidende Fragen nicht und schon gar nicht in der Lage.
Natürlich geht es besser. Und konkreter.
Auf operative Ebene sollte es stattdessen darum gehen, das konkrete und individuelle Gegenüber zu verstehen. Eine generelle und fallunabhängige Einteilung sieht auf einem Whiteboard zwar ganz gut aus und sie sorgt auch für eine kontextuale Einordnung. Sie scheint aber aus den zuvor genannten Gründen keine wesentliche Bedeutung für die Situationskontrolle in einer multifaktoriellen zwischenmenschlichen Konfliktsituation zu haben. Ein Zugang zum Gegenüber kann stattdessen wohl am ehesten über eine minimalistische Kombination aus Konfliktkommunikation und zielorientierter Gesprächsführung gelingen. Minimalistisch, weil die eigene Sicherheit und die hormonellen Einflussgrößen in einer potentiellen Gewaltlage wahrscheinlich sehr dominante Themen sind. Das erschwert eine dezidierte Situationsanalyse regelmäßig. Sinnvolle erste Schritte können Interessierte in speziellen Szenariotrainings lernen, die lediglich Kampfhandlungen ausschließen. Dem geneigten Trainer biete ich daher das folgende Szenariodesign als Blaupause an, das mit verschiedenen Situationen „aufgefüllt“ werden kann.
Ausgangslage: Zwei Personen A und B führen ein Gespräch am Tisch. Ein Dritter C kommt dazu und beleidigt A. C wirft ihm laut und unsachlich vor, der A habe seiner Freundin D wiederholt zugezwinkert und könne sich nun aussuchen, ob er mit vor die Tür kommt oder direkt hier den Preis dafür bezahlen möchte.
Hintergrund: A hatte das Gefühl, die D würde ihn angelächelt haben. Aus Unsicherheit hat er zurückgelächelt, war aber nicht ernsthaft interessiert. B hat gar nichts davon mitbekommen. C hat das Gefühl, seine Freundin verliere das Interesse an ihm seit Wochen. D buhlt um die Aufmerksamkeit von jedem Mann, da der C sie wegen seiner Arbeit sehr vernachlässigt.
Sicherheit: Der physische Kontakt ist nicht gestattet, das Einsetzen von variabler Distanz, Nähe, Lautstärke, Profanität und Dynamik aber erwünscht.
Übungsfreigabe: Eine Minute, nachdem sich A und B gesetzt haben.
Übungsende: Eine Minute im Gespräch. (1. Durchgang)
Zwei Minuten im Gespräch (2. Durchgang)
Variation 1: A = Autofahrer, B = Beifahrer, C = Vorfahrtberaubter, D = Beifahrer von D
Variation 2: A = Diskobesucher, B = Date von A, C = Angerempelter, D = Date von C
Variation 3: A = Trauernder, B = Tote, C = Betrogener Ex von B, D = neue Frau von C
[1] Laut einer Studie des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend wurden im Jahr 2019 in Deutschland 82% der Vergewaltigungen und sexuellen Nötigungen von Personen begangen, die dem Opfer bekannt waren, darunter auch in Beziehungen (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, 2020). Eine weitere Studie des Bundeskriminalamts aus dem Jahr 2019 zeigt, dass von den 7.786 erfassten Fällen von Vergewaltigung und sexueller Nötigung in Deutschland 39% in einer Beziehung stattgefunden haben (Bundeskriminalamt, 2020).
Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. (2020). Häusliche Gewalt und Stalking: Zahlen und Fakten. https://www.bmfsfj.de/bmfsfj/themen/gleichstellung/frauen-und-gewalt/haeusliche-gewalt-und-stalking–zahlen-und-fakten/144304
Bundeskriminalamt. (2020). Polizeiliche Kriminalstatistik 2019. https://www.bka.de/DE/AktuelleInformationen/StatistikenLagebilder/PolizeilicheKriminalstatistik/PKS2019/pks2019_node.html
Gepostet am 14. März 2023 von Tobias Brodala