Zivilcourage
Tobias Brodala & Stefan Reinisch
Gepostet am 22. Januar 2024 von Tobias Brodala
Taktik
Praktisch zivilcouragiert zu handeln bedeutet, jemandem in seiner Not zur Seite zu stehen, obwohl eigene Güter dadurch gefährdet werden könnten. Das macht es zu einem besonderen Thema der Selbstverteidigung, in der wir uns ja üblicherweise vor allem um uns selbst kümmern. In Fällen der Zivilcourage gehen wir einen anderen Weg und grundsätzlich gefährden wir uns sogar, gehen möglicherweise auf die Gefahr zu, um jemandem bei dessen Problemen zu helfen. Das ist nobel, aber (gesundheits-)kritisch. Außer Mut brauchen wir dafür vor allem ein Mindestmaß an Taktik und daher geht es hier zunächst darum, warum du stets ein bisschen cleverer sein solltest als du mutig bist, wie du eine Lage bewertest und wann es sinnvoll ist, sich nicht einzumischen.
Der Grund, warum in sehr vielen Fällen nicht eingeschritten wird, ist den allermeisten Menschen bewusst. Egal, um welches Problem es sich gerade konkret handelt, es besteht die Gefahr, dass sich das gesamte gewalttätige Potential gegen die helfende Person wendet. Der Fall Dominik Brunner (Spiegel Artikel) wird wohl noch jedem bekannt sein. Diese Gefahr besteht grundsätzlich immer, aber vor allem dann, wenn die Lage falsch bewertet und resultierend die falsche Taktik gewählt wird, also die Frage nach dem Ob, dem Wann und dem Wie nicht gestellt oder nicht passend beantwortet wurde.
Wir wollen immer ein wenig cleverer sein als wir mutig sind.
Zuständigkeit
Hilfe ist dann notwendig, wenn es sich um einen gewalttätigen Konflikt handelt. Es muss also zwischen den Beteiligten ein Machtgefälle bestehen und wir wollen natürlich der Person helfen, die sich nicht selber helfen kann. Geht es um einen Konflikt zur Klärung des eigenen Status, ohne dass ein derartiges Gefälle besteht, würde es sich bloß um eine sportliche Auseinandersetzung handeln. Sich da einzumischen fiele nicht unter den Begriff Zivilcourage, sondern würde eine Art Schlichtungs- oder Ordnungsmaßnahme darstellen. Man denke dabei z.B. an Lehrer, aber in heftigeren Fällen natürlich auch an die Profis von der Polizei.
Tipp: Eine niederschwellige und stets leistbare Form der Hilfe stellt das Wählen der entsprechenden Notrufnummer dar. Das ist jedem Menschen zuzumuten und auch im Falle eines Irrtums nicht folgenschwer.
Parteien
Wenn wir uns für eigenes aktives Handeln entscheiden, sollten wir vorher die Parteien analysieren. Dabei gilt: Je enger die Beziehung der Parteien zueinander ist (Ehe, Geschäftsbeziehung, Partnerschaft, sogar Feindschaft), desto brisanter ist eine Intervention. Resultat unserer Einmischung kann nämlich sein, dass sich diese Parteien gegen uns solidarisieren.
Taktisch kann man hier folgendes sagen: Wenn die Auseinandersetzung noch nicht körperlich ist, ist es empfehlenswert, sich mit der Opferpartei zu solidarisieren und sich mit dieser der Situation zu entziehen, als die Auseinandersetzung mit dem potentiellen Täter zu suchen. Die Eigensicherung sollte dabei natürlich gewahrt bleiben.
Gefahren
Direkte Gefahren gehen unmittelbar vom potentiellen Täter aus, sei es aufgrund seiner Statur, sei es, weil er mit den Händen in den Taschen vor uns steht und womöglich eine Waffe zieht. Indirekte Gefahren bestehen aufgrund der Örtlichkeit (z.B. Straßenverkehr, Treppe, aber auch, wenn Freunde des potentiellen Täters anwesend sind). Je größer die Summe an Gefahren und je größer die Gefahren an sich sind, desto eher sollte ich mir überlegen, ob mein Einschreiten überhaupt erfolgreich sein kann. Hier bedarf es vor allem einer gesunden Portion Selbstbewusstsein. Ich spreche hier ausdrücklich nicht von Selbstvertrauen, sondern dem absoluten Bewusstsein davon, wozu ich in der Lage bin.
Einsatzregeln
Die Bewertung der vorgenannten drei Punkte ergibt nun unsere Einsatzregeln, auch genannt „Rules of Engagement“. Diese bestimmen die Art und Weise, die Härte und die Grenzen von unserem Einwirken. Es kann Lagen geben, wo wir zu der Beurteilung kommen, uns physisch komplett aus der Sache rauszuhalten und lediglich einen Notruf an die Polizei absetzen. Eine andere Bewertung kann ergeben, dass wir beschließen, telefonisch medizinische Hilfe zu rufen. Wieder eine andere führt uns zum Schluss, mit dem Täter in Tuchfühlung bleiben zu wollen – also in sicherem Abstand – während wir die Polizei verständigen, um die Strafverfolgung zu gewährleisten. Kommen wir aufgrund der Umstände (Gefahr im Verzug) und unserer Bewertung zu dem Schluss, dass wir selber aktiv einschreiten wollen, werden wir uns verbal einbringen, uns vor die zu schützende Person stellen und gegebenenfalls aktiv kämpfen. Im schlimmsten Fall überspringen wir die verbale Phase und werden sofort aktiv kämpferisch einschreiten.
Sei stets ein wenig gefährlicher als die anderen.
Exfiltration
Schlussendlich müssen wir uns auch Gedanken darüber machen, wie wir aus der Sache wieder herauskommen, insbesondere, wenn sie schief läuft. Wir brauchen also eine Exit-Strategie. Das kann durch Flucht geschehen, je nach den Umständen alleine oder unter Mitnahme des Opfers . Gerade letzteres ist aber sehr schwierig umzusetzen.
Training
Du hast gerade eine sinnvolles Kapitel fleißig gelesen und ich danke dir vielmals. Gute Arbeit – nicht versagt. Aber wie so oft: Das Wissen allein um diese Zusammenhänge macht dich nicht besser. Gerade unter den stressigen Bedingungen einer derartigen Situation fällt das Denken schwer und eine solche Analyse wird vermutlich zu lange dauern. Ich erwarte also nicht von dir, dass du dir eine Taschenkarte dazu ausdruckst, die du dann abends stets mit dir führst, um eine große Analyse zu machen bevor du dann hilfst, wenn das Kind zwischenzeitlich schon tief im Brunnen liegt.
Tipp: Im meinen diversen YouTube Formaten habe ich jede Menge Videos von gewalttätigen Auseinandersetzungen präsentiert oder analysiert. Diese kannst du dir auch unter dem Aspekt der Zivilcourage anschauen: Wie würdest du entsprechend deiner Lageanalyse vorgehen, um der anderen Person zu helfen? Mach das und zwar oft. Das ist eine Form von Training – hier der Fähigkeit Lagebewertung. Damit wirst du besser und ähnlich dem Kalorienzählen: mit der Zeit geschieht es beinahe nebensächlich – auch ohne Taschenkarte und minutenlanges Zerdenken, wenn Zeit kritisch ist.
Und bevor ich das vergesse: Auch die praktischen Fähigkeiten des Eingreifens musst du trainieren. Werde gut, werde gefährlich und schaffe dir künstliche Erfahrungen drauf mit Hilfe von Szenariotraining.
Psychologie
Neben der Taktik stellen vor allem psychologische Herausforderungen die Besonderheit des Phänomens Zivilcourage dar. Um das clever zu umreißen, stelle ich dir das sozialpsychologische Modell der fünf Hürden vor. Damit soll sinnbildlich nachvollziehbar werden, wie du andere effektiv dazu motivierst, dir bei deiner Hilfsmaßnahme zu helfen und welche persönlichen Merkmale couragiertes Handeln begünstigen. Und natürlich, warum „easy peasy tacticoole Selbstverteidigung“ ganz gefährlicher Mist ist.
Die psychologischen Aspekte der Zivilcourage herauszuarbeiten ist eine enorme Herausforderung, weil viele Fraktionen innerhalb der Psychologie (Sozialpsychologen, Persönlichkeitspsychologen, Motivationspsychologen) dazu etwas zu sagen haben. Unbedingt zu empfehlen ist in diesem Zusammenhang der Coach für Zivilcourage Chaska Stern, den kennenzulernen ich die Ehre hatte. Er steht einem Netzwerk von Trainern und Experten vor, die sich den Kampf für mehr Akzeptanz, Inklusion und auch zivilcouragiertes Handeln als Aufgabe gesetzt haben. Infos, Termine und Ansprechpartner zu diesem tollen Projekt findest du hier: https://bundesnetzwerk-zivilcourage.de/
Was sind jetzt konkret diese fünf Hürden, die wir erst überwinden müssen, bevor wir zivilcouragiert handeln und wie können wir andere Menschen zur Unterstützung gewinnen? Wobei wir nicht vergessen dürfen: Zur Zivilcourage wird unser Handeln erst dann, wenn dabei auch unsere eigenen Güter gefährdet werden.
Wahrnehmung
Das klingt als Basis etwas profan. Hier ist auch keine Superkompetenz in situativer Aufmerksamkeit oder so gemeint. Ein Ereignis, in dem man zivilcouragiert handeln könnte, muss einfach initial als solches wahrgenommen werden, unabhängig davon, was da genau passiert. Relativ häufig geben Menschen an, nichts von einem Problem mitbekommen zu haben und im Zweifelsfall würde ich das nicht in Abrede stellen wollen. Daher sollten wir auch unbedingt darin gut werden, das Vorhandensein eines gewalttätigen Problems zu bemerken. Wie sieht Gewalt aus? Wie sieht subtile, gar verbale Gewalt aus? Das zu erkennen, darin kann und sollte man gut werden, wenn man von sich möchte, dass man zivilcouragiert handeln zu kann. Der Konsum meiner YouTube Serie „Selbstverteidigung Verstehen“ kann da ein erster Schritt sein. Konsumiere Aufzeichnungen (öffentlicher) Gewaltlagen und sammle so viele Eindrücke darüber, wie sich eine Lage entwickelt, z.B. wie sich ein aufschaukelndes Gespräch gestikulär widerspiegelt oder wie sich ein Gesichtsausdruck von Wut ins Abscheu wandelt usw. Je besser du das kannst und je früher du eine Lage daraus bewerten kannst, desto höher stehen deine Chancen, das auch in der Lage sinnvoll zu bemerken.
Bonus Tipp: Bereits in dieser Phase sollten wir andere darauf aufmerksam machen. Es muss sich dabei gar nicht um eine Notfallsituation oder eine Gewalttat handeln. Das einzige Risiko für uns besteht darin, dass wir grundlos Alarm geschlagen haben. Diesbezüglich betont die Polizei immer und immer wieder: besser einmal zu viel als einmal zu wenig.
Interpretation als Notfall
Im zweiten Schritt erfolgt die Bewertung dieser Wahrnehmung. Wir müssen feststellen, dass es sich um einen Notfall handelt. Anders ausgedrückt und im Zusammenhang zum Kapitel Taktik: Zwischen den beteiligten Parteien muss es ein Machtgefälle im Sinne Täter > Opfer geben. Erneut darf ich den Hinweis auf meine Serie „Selbstverteidigung verstehen“ geben. Dort findest du eine ganze Reihe derartiger Notfälle. Auf diese Art und Weise können wir uns bereits ein wenig mit der Problematik vertraut machen. Es gibt auch eine Episode, die explizit darauf abzielt zu erkennen, ob es sich bei einem Kampf um ein eher sportliches Ereignis (im allerweitesten Sinne) oder eine Übergriffhandlung handelt.
Zuständigkeit
Der dritte Punkt betrifft die Zuständigkeit. Auch dazu habe ich bezüglich der Taktik bereits ausgeführt. Hier möchte ich darüber hinausgehen und die Zuständigkeit als „gefühlte Zuständigkeit“ bezeichnen: Das vereinigt zwei Elemente. Zum einen Persönlichkeitsmerkmale, an denen wir vorerst mal nicht viel ändern können. Sind wir von unserer Persönlichkeit eher schüchtern, zurückgezogen und ohne Empathie, werden wir wahrscheinlich nicht helfen. Wir werden keine Verantwortung annehmen und uns nicht zuständig fühlen.
Zum anderen das Problem der Verantwortungsdiffusion. Es beschreibt, dass Verschieben der Verantwortung auf andere. Je mehr Leute gerade anwesend sind, desto größer ist die Versuchung, die Verantwortung auf andere zu schieben, weil diese nach eigener Rechtfertigungsstrategie näher dran oder kompetenter wären.
Tipp: Um diese Diffusion zu vermeiden, müssen die Leute konkret zuständig gemacht werden. Damit eine Abgabe der Verantwortung nicht stattfindet, kann man also versuchen, Verantwortung konkret zuzuweisen. Das geht in dem man Umstehende konkret und präzise formuliert mit Aufgaben betraut. Je konkreter eine Person angesprochen („Hey du, mit der roten Jacke“) und je präziser der Auftrag formuliert wird („Geh in das Geschäft und frage nach Decken. Wir brauchen richtig viele richtig schwere Decken.“), desto eher helfen Menschen.
Kompetenzen
Hürde Nummer 4 sind die notwendigen Fertigkeiten. So gut der Video-Podcast und dieser Artikel auch sind, gilt das Fazit unter dem Taktikkapitel. Wir ersetzen hier nicht das praktische Training und die realistischen (oder künstlichen) Erfahrungen. Wenn es uns nicht gelingt, wenigstens künstliche Erfahrungen mit dem praktischen Helfen zu machen, wird uns dieses Wissen wenig helfen. Einen Apell darf der geneigte Leser hier selbst erkennen und ich mache auch an dieser Stelle keine konkrete Werbung. (Wäre hiermit dennoch geschehen).
Zuständigkeit
Im letzten Punkt geht es um die Entscheidungen, wie man helfen kann. Genau darum geht es im vorstehenden Kapitel. Im Zweifelsfall also noch mal zurückblättern. Beim geneigten Leser sollte sich jetzt hier ein Kreis schließen.
Bonus Tipp aus der Motivationspsychologie: Unsere Erwartungshaltung an unsere Hilfeleistung muss realistisch sein. Unrealistische Erwartungen wirken immer demotivierend. Das ist der Grund, warum ich von Selbstverteidigungsseminaren mit den “einfachsten 1-2-3 Moves“ (beliebt in der Frauenselbstverteidigung) nichts halte. Die Teilnehmerinnen (oder Teilnehmer) fühlen sich zwar besser. Sobald sie jedoch mit der Realität in Berührung kommen, bricht alles zusammen wie ein Kartenhaus.
Anmerkung Stefan: diese Erwartungshaltung an die Selbstverteidigung scheint unverrückbar in den Köpfen der Mädchen und Frauen verankert. Jeder neue Kurs bestätigt meine diesbezügliche Beobachtung. Das ist der Grund, warum ich meine Kurse nur noch mit Bauchschmerzen als „Selbstverteidigung“ bezeichne, weil es direkt beschämend ist, mit derartigem Mist in Verbindung gebracht zu werden.
Martialisch und krass auszusehen ist gut für ein Hobby, aber nicht so gut gegen echte Probleme.
Letzter Tipp: Besorge dir so viel an richtiger Information, wie es nur geht. Sieh dir dazu gerne sämtliche bei den einzelnen Video-Episoden meiner YouTube Formate verlinkten Videos an, um einer unrealistischen Erwartungshaltung bezüglich Gewaltlagen vorzubeugen.