Situative Aufmerksamkeit ist eine Frage des Trainings

Gepostet am 6. März 2023 von Tobias Brodala

Mehr als ein Schlagwort

Von vielen Selbstschutztrainer hört man immer wieder den Begriff „situative Aufmerksamkeit“. Es wird behauptet, dass sie eine der wichtigsten Kompetenzen ist, um in brenzligen Situationen angemessen reagieren zu können. Das würde ich auch sagen. Doch obwohl viel darüber gesprochen wird, scheint niemand eine klare Vorstellung davon zu haben, wie man diese Kompetenz trainieren und verbessern kann. Statt konkrete Übungen vorzuschlagen, greifen viele Trainer auf motivierende Analogien zurück oder fordern die Teilnehmer auf, sich gefährliche Situationen vorzustellen. Reicht das aus? Für andere Kompetenzen wie Schlagkraft oder Nehmerqualitäten würde uns das nicht reichen. Deswegen möchte ich in diesem Artikel konkrete Übungen vorstellen, die auf wissenschaftlichen Studien basieren und gezielt die Fähigkeit zur situativen Aufmerksamkeit verbessern. Dabei geht es weniger um die direkte Passung mit den Herausforderungen einer Gewaltlage, sondern vielmehr um die gezielte Schulung von acht relevanten Teilfertigkeiten auf neurologischer Ebene. Wir können das Kapazität nennen. Sie bildet die biologische Grundlage für spezifischere Arbeit, die bestenfalls in Szenariotrainings oder Übungen in der Welt außerhalb des Trainingskontextes stattfinden sollten. Ohne sie, wäre der Lerneffekt solche speziellen Trainings halt sehr begrenzt. Schritt für Schritt werden wir uns dabei auch konkreten Selbstverteidigungssituationen annähern, um Trainern und Teilnehmern einen zielführenden und logischen Zugang zu diesem wichtigen Thema zu ermöglichen.

Objektwahrnehmung

Teilnehmer sollen lernen, schnell auf veränderte oder unerwartete Objekte zu reagieren, um ihre Fähigkeit zur Wahrnehmung, z.B. von Bedrohungen zu verbessern.

Yantis, S., & Jonides, J. (1990). Abrupt visual onsets and selective attention: Evidence from visual search. Journal of experimental psychology: human perception and performance, 16(1), 121–134.
  1. Spot the Difference: Bei dieser Übung werden zwei fast identische Bilder nebeneinander präsentiert, aber es gibt ein oder mehrere Unterschiede zwischen den Bildern. Die Teilnehmer müssen schnell auf die Unterschiede reagieren, indem sie sie identifizieren und markieren. Diese Übung kann auch mit einem Timer versehen werden, um den Schwierigkeitsgrad zu erhöhen.
  2. Farbwechsel: Bei dieser Übung werden Teilnehmern mehrere farbige Objekte präsentiert. Eine Farbe wird als „Ziel“ bestimmt. Die Teilnehmer müssen schnell reagieren, wenn das Zielobjekt seine Farbe ändert. Diese Übung kann auch mit verschiedenen Formen oder Bildern durchgeführt werden, um die Fähigkeit der Teilnehmer zu verbessern, schnell auf veränderte Objekte zu reagieren.

Beide Übungen erfordern schnelle Reaktionen auf veränderte oder unerwartete Objekte, um die Fähigkeit der Teilnehmer zur Wahrnehmung von Bedrohungen zu verbessern. Sie können dazu beitragen, das periphere Sehen und die Reaktionsfähigkeit zu verbessern und die Aufmerksamkeit auf wichtige Informationen zu lenken.

Entscheidungsfindung

Teilnehmer sollen lernen, schnell und effektiv Entscheidungen zu treffen und auf unvorhergesehene Ereignisse zu reagieren, indem sie ihre Aufmerksamkeit und ihr Urteilsvermögen schulen.

Bechara, A., Damasio, H., Tranel, D., & Damasio, A. R. (1997). Deciding advantageously before knowing the advantageous strategy. Science, 275(5304), 1293-1295.
  1. EntscheidungsfindungsTraining: Spielen Sie ein Spiel, das Ihre Entscheidungsfindungsfähigkeiten unter Unsicherheit verbessert. Zum Beispiel können Sie „Poker“ spielen oder ein Strategiespiel wie „Risiko“. Diese Spiele erfordern, dass Sie Entscheidungen treffen, obwohl Sie nicht alle Informationen haben und müssen die möglichen Ergebnisse und Risiken abschätzen. Spielen Sie regelmäßig, um Ihre Fähigkeit zur Entscheidungsfindung zu verbessern.
  1. RisikobewusstseinsTraining: Machen Sie eine Aktivität, bei der Sie Risiken eingehen und Ihre Risikobewusstheit verbessern können. Zum Beispiel können Sie eine Kletterwand besteigen oder Bungee-Jumping ausprobieren. Stellen Sie sicher, dass Sie alle notwendigen Sicherheitsvorkehrungen treffen, um Verletzungen zu vermeiden. Während Sie diese Aktivitäten ausführen, üben Sie Ihre Fähigkeit, die Risiken abzuschätzen und die möglichen Konsequenzen zu bewerten.

Diese Trainingsmöglichkeiten können Ihnen helfen, Ihre Fähigkeit zur vorteilhaften Entscheidungsfindung und Risikobewusstsein zu verbessern. Durch praktisches Üben in realen Situationen können Sie lernen, die Unsicherheit zu managen und Ihre Entscheidungen zu verbessern.

Dual-Task

Teilnehmer müssen gleichzeitig eine visuelle Aufgabe und eine auditive Aufgabe lösen, um ihre Aufmerksamkeit zu trainieren.

Schumacher, E. H., Seymour, T. L., Glass, J. M., Fencsik, D. E., Lauber, E. J., Kieras, D. E., & Meyer, D. E. (2001). Virtually perfect time sharing in dualtask performance: Uncorking the central cognitive bottleneck. Psychological science, 12(2), 101–108.
  1. Visuelle und auditive StroopTest: Diese Übung ist eine Variante des klassischen Stroop-Tests, der normalerweise nur eine visuelle Aufgabe beinhaltet. In diesem Fall müssen die Teilnehmer jedoch sowohl visuelle als auch auditive Reize verarbeiten. Sie können dies tun, indem sie eine Liste von Farbwörtern hören und gleichzeitig eine Liste von Farbfeldern auf einem Bildschirm betrachten. Die Teilnehmer müssen die Farbe des Wortes (anstatt des Wortes selbst) benennen und auch die Farbe des Farbfeldes angeben. Die Schwierigkeit kann durch die Geschwindigkeit der Reize und die Anzahl der Reize erhöht werden.
  2. TrailMakingTest: Diese Übung beinhaltet das Verbinden von Zahlen und Buchstaben auf einem Blatt Papier. Die Teilnehmer müssen eine Linie zwischen den Zahlen und Buchstaben ziehen, aber in einer bestimmten Reihenfolge. Zum Beispiel müssen sie zuerst alle Zahlen in aufsteigender Reihenfolge verbinden und dann alle Buchstaben in alphabetischer Reihenfolge. Diese Übung erfordert visuelle und kognitive Fähigkeiten, um gleichzeitig verschiedene Aufgaben zu bewältigen. Die Schwierigkeit kann durch die Anzahl der Zahlen und Buchstaben erhöht werden.

Beide Übungen erfordern, dass die Teilnehmer ihre Aufmerksamkeit auf mehrere Dinge gleichzeitig richten und die Fähigkeit, zwischen verschiedenen Arten von Informationen zu wechseln. Diese Art des Trainings kann dazu beitragen, die kognitive Kapazität und Leistung zu verbessern, indem es die Fähigkeit des Gehirns verbessert, mehrere Aufgaben gleichzeitig zu bewältigen.

Multitask

Teilnehmer müssen mehrere Aufgaben gleichzeitig ausführen, um ihre Aufmerksamkeit auf verschiedene Reize zu lenken und zu lernen, Prioritäten zu setzen.

Strayer, D. L., Drews, F. A., & Johnston, W. A. (2003). Cell phoneinduced failures of visual attention during simulated driving. Journal of Experimental Psychology: Applied, 9(1), 23–32.
  1. DualTaskSimulationsTraining: Schreiben und Reden: Bei dieser Übung müssen die Teilnehmer gleichzeitig eine Aufgabe schriftlich erledigen und mündlich kommunizieren. Zum Beispiel können die Teilnehmer eine E-Mail schreiben und gleichzeitig einen Kollegen telefonisch informieren oder eine Einkaufsliste schreiben und gleichzeitig einem Familienmitglied Anweisungen geben
  2. Timed AttentionSwitchingTraining: In dieser Übung müssen die Teilnehmer schnell zwischen verschiedenen Aufgaben wechseln, z.B. zwischen dem Lösen von Mathematikaufgaben und dem Schreiben von Textnachrichten oder dem Sortieren von Farben und dem Lesen von Texten. Die Teilnehmer müssen lernen, Prioritäten zu setzen und die Aufgaben schnell und effektiv zu erledigen. Die Schwierigkeit kann durch die Anzahl und Art der Aufgaben sowie durch die verkürzte Zeit erhöht werden, die den Teilnehmern zur Verfügung steht.

Beide Übungen erfordern, dass die Teilnehmer mehrere Aufgaben gleichzeitig bewältigen und Prioritäten setzen. Sie können dazu beitragen, die Fähigkeit des Gehirns zu verbessern, mehrere Aufgaben gleichzeitig zu bewältigen, um die Effizient der Genauigkeit ihres Verhaltens zu steigern.

  1. AblenkungsTraining: Teilnehmer sollen lernen, sich auf eine Aufgabe zu konzentrieren, auch wenn sie von anderen Reizen abgelenkt werden.

Eysenck, M. W., & Derakshan, N. (2011). New perspectives in attentional control theory. Personality and individual differences, 50(7), 955–960.

  1. Störendes Geräusch: Bei dieser Übung hören Teilnehmer einem Ton zu, der regelmäßig wiederholt wird, aber es gibt auch gelegentlich unerwartete laute Geräusche, die die Teilnehmer ablenken sollen. Die Teilnehmer müssen ihre Konzentration auf die Aufgabe beibehalten und trotz der Ablenkung schnell auf die visuellen oder auditiven Reize reagieren.
  1. Buchstabensuche: Bei dieser Übung werden Teilnehmern Buchstaben oder Zahlen auf einem Hintergrund mit vielen anderen Buchstaben oder Zahlen präsentiert. Die Teilnehmer müssen schnell und genau die gesuchten Buchstaben oder Zahlen identifizieren und markieren, obwohl es viele ähnliche und ablenkende Elemente gibt.

Beide Übungen erfordern Konzentration und die Fähigkeit, sich auf eine Aufgabe zu konzentrieren, auch wenn andere Reize ablenken. Sie können dazu beitragen, die Fähigkeit der Teilnehmer zu verbessern, auf wichtige Informationen zu achten und irrelevante Informationen zu ignorieren.

Aufgabenwechsel

Teilnehmer sollen lernen, schnell und effektiv zwischen verschiedenen Aufgaben und Situationen zu wechseln, um flexibel auf unerwartete Ereignisse zu reagieren.

Monsell, S., & Driver, J. (2000). Control of cognitive processes: Attention , action selection, and cognitive supervision. In S. Monsell & J. Driver (Eds.), Control of cognitive processes: Attention and performance XVIII (pp. 1-16). MIT Press.
  1. Wechsel zwischen zwei Aufgaben: Bei dieser Übung sollen Teilnehmerinnen und Teilnehmer lernen, zwischen zwei verschiedenen Aufgaben schnell und effektiv zu wechseln. Dazu könnten sie zum Beispiel folgende Aufgaben bearbeiten:
  • Aufgabe 1: Eine einfache Rechenaufgabe lösen, zum Beispiel 12 + 18.
  • Aufgabe 2: Ein kurzes Textstück lesen und Fragen dazu beantworten.

Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer beginnen mit einer der beiden Aufgaben und bearbeiten sie für eine bestimmte Zeit, zum Beispiel 30 Sekunden. Dann wechseln sie zur anderen Aufgabe und bearbeiten auch diese für 30 Sekunden. Der Wechsel zwischen den Aufgaben erfolgt dabei schnell und ohne Pause. Ziel ist es, möglichst viele Aufgaben innerhalb einer bestimmten Zeit zu bearbeiten, ohne dabei unnötige Fehler zu machen.

  1. Wechsel zwischen komplexen Aufgaben: Bei dieser Übung sollen Teilnehmerinnen und Teilnehmer lernen, zwischen komplexeren Aufgaben und Situationen schnell und effektiv zu wechseln. Dazu könnten sie zum Beispiel folgende Aufgaben bearbeiten:
  • Aufgabe 1: Eine komplexere Rechenaufgabe lösen, zum Beispiel die Lösung eines geometrischen Problems.
  • Aufgabe 2: Eine kurze Textanalyse durchführen und eine Zusammenfassung schreiben.
  • Aufgabe 3: Eine kreative Aufgabe lösen, zum Beispiel das Schreiben eines kurzen Gedichts.

Die Teilnehmer beginnen mit einer der Aufgaben und bearbeiten sie für eine bestimmte Zeit, zum Beispiel 2 Minuten. Dann wechseln sie zur nächsten Aufgabe und bearbeiten auch diese für 2 Minuten. Der Wechsel zwischen den Aufgaben erfolgt dabei schnell und ohne Pause. Ziel ist es, möglichst viele Aufgaben innerhalb einer bestimmten Zeit zu bearbeiten, ohne dabei unnötige Fehler zu machen und dabei flexibel auf die Anforderungen der jeweiligen Aufgabe zu reagieren.

Das Ziel beider Übungen ist der schnelle Wechsel von Fokus, um in komplexen Situationen flexibel auf unerwartete Ereignisse zu reagieren.

Situationsbewusstsein

Teilnehmer sollen lernen, ihre Umgebung aufmerksam zu beobachten und sich bewusst zu sein, welche Ereignisse in ihrer Umgebung passieren und wie diese sie beeinflussen können.

Endsley, M. R. (1995). Toward a theory of situation awareness in dynamic systems. Human factors, 37(1), 32-64.
  1. SituationsbewusstseinsCheck: Bei dieser Übung geht es darum, Ihre Fähigkeit zur Wahrnehmung und Einschätzung der aktuellen Situation zu verbessern. Betreten Sie Ihr nächstes sozialen Gefüge, z.B. den Supermarkt um die Ecke. Versuchen Sie, sich bewusst zu sein, was in der Umgebung vor sich geht, wie Menschen sich bewegen, welche Geräusche zu hören sind und welche Aktivitäten in Ihrer Umgebung stattfinden. Achten Sie darauf, Ihre Wahrnehmung nicht auf bestimmte Aspekte der Situation zu beschränken, sondern versuchen Sie, ein umfassendes Bild der Situation zu erhalten. Stellen Sie sich Fragen wie „Was passiert gerade in meiner Umgebung?“ oder „Wie würde ich die gesamte Situation beschreiben, wenn ich sie jemandem erklären müsste?“
  2. SituationsbewusstseinsTest: Bei dieser Übung geht es darum, Ihre Fähigkeit zur schnellen Entscheidungsfindung und Handlungsfähigkeit in einer Situation zu verbessern. Überlegen Sie sich eine seltene optische Eigenschaft von Menschen wie rote Haare, Narben im Gesicht oder einen Schnurbart. Begeben Sie sich in den regionalen Personennahverkehr, also den Bus oder sie Bahn, und führen Sie eine Reise zum Ort Ihrer Wahl durch. Warten Sie bis eine Person einsteigt, die exakt Ihre Vorstellung der optischen Eigenheit abbildet. Begeben Sie sich sofort in eine günstige Position, um entweder
  • diese Person vorteilhaft aus der Flanke oder rückwärtig zu bekämpfen

  • einen geeigneten Sichtschutz oder Deckung sofort herzustellen

  • das Reisemittel auf schnellsten Weg zu verlassen.

Alternativ können Sie sich auch nur die Fragen stellen „Was muss ich tun, um dieses Handlungsergebnis herzustellen?“ oder „Welche Ressourcen stehen mir dafür zur Verfügung?“ und treffen Sie schnell die notwendigen  Entscheidungen, um die Situation entsprechend zu bewältigen.

Beide Übungen sollen helfen, Ihre Fähigkeit zur Situationswahrnehmung und schnellen Entscheidungsfindung in dynamischen Systemen zu verbessern.

Selbstbeobachtung

Teilnehmer sollen lernen, sich selbst aufmerksam zu beobachten und ihre eigenen Handlungen und Reaktionen zu reflektieren, um ihre Wahrnehmung und ihr Selbstbewusstsein zu verbessern.

Meichenbaum, D. (1977). Cognitivebehavior modification: An integrative approach. New York: Plenum Press.
  1. Videoaufnahme: Nehmen Sie sich selbst auf, während Sie ein unsicheres Gespräch in einem Szenariotraining führen. Schauen Sie sich die Aufnahme später an und beachten Sie Ihre Körpersprache, Ihre Stimme und Ihre Wortwahl. Versuchen Sie, Bereiche zu identifizieren, in denen Sie sich verbessern können, und setzen Sie sich Ziele für Ihre nächste Präsentation.
  2. Tagebuchführung: Führen Sie ein Tagebuch über Ihre Gedanken und Gefühle in prekären Situationen wie Konfrontationen, die Sie im Alltag hatten oder im Szenariotraining erlebt haben. Schreiben Sie auf, was passiert ist, wie Sie sich dabei gefühlt haben und welche Gedanken und Überzeugungen Sie hatten. Versuchen Sie, Muster in Ihrem Denken und Verhalten zu identifizieren und notieren Sie, wie Sie in Zukunft anders handeln könnten.

Diese Übungen können Ihnen helfen, sich bewusster über Ihre Gedanken, Gefühle und Verhaltensweisen zu werden. Durch die Verwendung von Videoaufnahmen oder Tagebüchern können Sie Ihre Selbstbeobachtungsfähigkeiten verbessern und Ihre kognitive Flexibilität stärken, indem Sie alternative Perspektiven und Handlungsmöglichkeiten erkunden.

Diese acht Arbeitsfelder sollten bestenfalls regelmäßig über einen längeren Zeitraum beübt werden, um Ergebnisse zu produzieren. Eine einmalige Durchführung kann einen Ist-Stand ermitteln, aber wird erst nach mehreren Wochen konsequenten Trainings Verbesserungen sichtbar lassen werden. Insofern können Sie über die Zeit eine günstige Basis darstellen, von der aus der professionelle Selbstschutztrainer spezifische, szenariobasierte Übungsformen anbieten kann.