tradierte diskriminierung
Gepostet am 26. September 2024 von Tobias Brodala
Ein ganz schmaler Grat
Hast du diesen Clip schon mal gesehen? Das ist natürlich vollkommener Bullshit, der der Beseitigung tatsächlicher gesellschaftlicher Probleme einen massiven Bärendienst erweist. Sprache hat unter anderem durchaus die Funktion, Wahrnehmungen in die Kommunikation zu bringen. Zum Beispiel um den richtigen Menschen zu adressieren. Wenn das aufgrund unseres Vorwissen unrichtig geschieht, ist das normalerweise kein Problem. Wenn man es nicht zufälligerweise mit absoluten Sprachfanatikern zu tun hat, wird man auf den Irrtum hingewiesen und kann danach effektiver kommunizieren. Das wäre in dem vorangestellten Video eine echte Chance gewesen, denn freilich wollte hier niemand diskriminieren und das macht den Hinweis auf die Diskriminierung seinerseits zu einer Unterstellung, die nicht auf Irrtum, sondern wahrscheinlich auf Agenda beruht. Klingt fast kompliziert. Wart’s ab.
I did fuck up, tho
Ich wollte neulich auch nicht diskriminieren. Habe ich aber. Und zwar in (mindestens) einem Podcast. Da habe ich zum Thema „Wie man einen guten Trainer findet“ in Minute 13 von einem didaktischen Fehler gesprochen und den Zuhörer darum gebeten mir zurückzumelden, wie „behindert“ dieser Fehler von mir war:
„Ich lass dich das mal diskutieren. Schreib mal in die Kommentare, wie behindert dieser Fehler war von mir oder sag: Na gut, komm, alles in Ordnung.“ (Podcast Legende Tobias Brodala)
Ein Zuhörer hat sich daraufhin bei mir gemeldet und mich enorm freundlich, aber durchaus persönlich getroffen, darauf aufmerksam gemacht, dass jeder das hören kann und durchaus auch Menschen mit Behinderung. Und das stimmt. Wider mein Ego als Content Creator konnte ich auch nach mehrmaligem Durchdenken seiner Nachricht nicht anders als ihm Recht zu geben. Das geht nicht und ich kann das besser. Oder vielmehr. Ich weiß es besser. Und das muss ich nun umsetzen. Ich habe zu diesem Thema das Folgende herausgefunden und mir damit eine neue Entwicklungsaufgabe gegeben. Lieber Leser, wenn du das Thema kennst, bei dir oder bei anderen schon mal festgestellt hast, dann lies das mal und geh ein Stück des Weges mit mir gemeinsam.
Ein alter Hut, der keinem steht
Diskriminierung ist ein weitreichendes und vielschichtiges Phänomen. Äußern kann sich das in mannigfaltiger Form: Ableismus, Rassismus, Homoshaming sind so die großen Dinger, aber es gibt auch darüber hinaus zahlreiche Wege, Menschen verbal und über Jahre zu diskriminieren. Trotz der inhaltlichen Unterschiede in den Zielen dieser Diskriminierungen teilen sie grundlegende Gemeinsamkeiten in ihren Mechanismen und ihrer Wirkung. Eine wesentliche Gemeinsamkeit ist die tief verwurzelte Natur dieser Vorurteile, die über Generationen hinweg weitergegeben werden. Sie werden durch kulturelle und soziale Mechanismen gestützt, die bereits in der Kindheit prägend wirken können. Ich bin dafür ein gutes, ein trauriges Beispiel. Wenn du in meiner Handballmanschaft kein zweites Bier wolltest, warst du schwul. Hast du den Ball nicht gefangen, offensichtlich blind. Und den einzigen Schwarzen in der Klasse haben alle Bongo genannt. Seine Schwester: Schwester von Bongo. Vollkommen alltagstauglich und in den 90ern sowas von gar kein Problem. Und das ist ein mega Problem.
Was soll das?
Eine der auffälligsten Parallelen ist nämlich die Art und Weise, wie diskriminierende Verhaltensweisen durch Sprache vermittelt und verstärkt werden. Sprache ist nicht nur ein Mittel der Kommunikation, sondern implizit ein Instrument der Machtausübung. In allen Formen von Diskriminierung dient sie dazu, Grenzen zu ziehen und Menschen auszugrenzen. Am Beispiel von mir hätte ein Blinder nun offensichtlich nicht in unser Team gepasst und Trinken wäre ja mit Homosexuellen auch nicht möglich gewesen. Wahnsinn, wenn du dir das mal wirklich vor Augen führst. Auf diese Weise werden abwertende Begriffe als prototypisch für ethnische Minderheiten, Menschen mit Behinderungen oder LGBTQ+ Personen verwendet. Im logischen Schluss werden diese Gruppen also als „anders“ oder „weniger wert“ markiert. Es entsteht ein Machtgefälle, das die Dominanz bestimmter gesellschaftlicher Gruppen zementiert. Das der Jungs, die ganz normal Handball spielen und miteinander mindestens zwei Bier trinken können.
Ein Wolf im Schafspelz
Besonders in der Familie und im schulischen Umfeld wird diskriminierende Sprache oft unreflektiert weitergegeben. Kinder lernen von ihren Bezugspersonen, welche Begriffe als „normal“ oder abwertend gelten, und übernehmen damit unbewusst Vorurteile, die diese Begriffe haben entstehen lassen. Gilt für Rassismus genauso wie für Ableismus oder Homoshaming. Dabei ist auffällig, dass die meisten diskriminierenden Praktiken eine starke emotionale Komponente beinhalten: Abwertung erfolgt oft über die Herabsetzung der individuellen Würde, indem jemand nicht nur physisch oder rechtlich benachteiligt, sondern auch emotional verletzt wird. Dies zeigt sich deutlich in der Verwendung von Beleidigungen oder diffamierenden Bemerkungen.
„Wieder so Schwule, die aufm Handy rumgucken, und nach 30 Sekunden klingelt das Scheißding und dann haun se da ran und nach drei Wiederholungen kriegen se n blauen Kopp.“ (IFBB Pro Markus Rühl)
Trotz der offensichtlichen Unterschiede – Ableismus betrifft Menschen mit Behinderungen, Rassismus richtet sich gegen ethnische Minderheiten, Homoshaming trifft Menschen aufgrund ihrer sexuellen Orientierung – teilen diese Phänomene einige strukturelle Gemeinsamkeiten. Zunächst sind alle Formen von Diskriminierung eng mit gesellschaftlichen Machtstrukturen verknüpft. In allen Fällen wird eine bestimmte Gruppe als überlegen, die andere als unterlegen angesehen, was sich in sozialen, wirtschaftlichen und politischen Nachteilen manifestiert.
"Ich hab's gar nicht böse gemeint"
Das spannende am Phänomen ihrer unreflektierten Tradierung ist die Normalisierung diskriminierender Einstellungen. Also irgendwann hat mal einer beispielsweise rassistische Sprache genutzt, um eine Gesellschaftsgruppe machtpolitisch auszuschießen (siehe Foto). Und das ist dann über die Wiederholung die Standardbezeichnung geworden. Die ursprüngliche Intention ist verloren gegangen und wesentlich später sind sich Menschen nicht bewusst, dass sie diskriminierend handeln („Bongo“), denn die schädigenden Vorurteile sind in alltäglichen Redewendungen und Verhaltensweisen verschwunden. Nur dass sie das nicht zwingend für den Hörer sind. Er gehört zu der Gruppe, die bezeichnet wird, und hat damit wahrscheinlich einen intrinsischen Informationsvorsprung. Der Sprecher ist sich über die schädliche Wirkung seiner Ausdrücke nicht im Klaren. Eine Verletzung findet möglicherweise dennoch statt.
Kleiner Literaturtipp
Ebenso finden sich ableistische Stereotype in scheinbar harmlosen Witzen wieder, die die betroffenen Gruppen entmenschlichen und stereotype Vorstellungen aufrechterhalten. Ich empfehle dir dazu hier mal eine Glosse von Rebecca Maskos, in der sich eine taube Nuss mit einer blinden Kuh auf einen Kaffee trifft.
Strukturelle Probleme
Eine Gemeinsamkeit dieser Phänomene ist, dass die Diskriminierung oft über strukturelle Mechanismen fortgeführt wird. In vielen Ländern gibt es Gesetze gegen Diskriminierung, doch in der Praxis sehen sich marginalisierte Gruppen weiterhin mit Vorurteilen und ungleichen Chancen konfrontiert. Besonders im Bildungssystem und am Arbeitsmarkt sind diese strukturellen Diskriminierungen deutlich spürbar. Kinder aus marginalisierten Gruppen haben oft schlechtere Bildungschancen, und Menschen mit Behinderungen oder Personen, die aufgrund ihrer sexuellen Orientierung diskriminiert werden, sind überproportional häufig von Arbeitslosigkeit betroffen. Da hört der Spaß irgendwie auf, oder? Tut er eben nicht, weil diese Folgen des „harmlosen und unbeabsichtigten Wortmissbrauchs“ für den Sprecher nicht verfügbar sind.
Individuelle Probleme
Neben der sprachlichen und strukturellen Diskriminierung teilen alle Formen die psychologischen Auswirkungen auf die Betroffenen. Diskriminierung hinterlässt oft tiefe emotionale Wunden. Mehrere Studien (Meyer 2003, Williams 2009) haben gezeigt, dass Menschen, die regelmäßig Diskriminierung erleben, ein höheres Risiko für psychische Erkrankungen wie Depressionen und Angststörungen haben. Die ständige Abwertung durch Sprache, das Gefühl der Andersartigkeit und die Ausgrenzung führen zu einem verminderten Selbstwertgefühl und können langfristige psychische Schäden verursachen. Dies betrifft Menschen, die aufgrund ihrer Hautfarbe, ihrer Behinderung oder ihrer sexuellen Orientierung diskriminiert werden, in gleichem Maße. Selten ist das vom Sprecher direkt beabsichtigt, wird dennoch nicht minder vom Empfänger gespürt.
Klartext
Wir stellen fest: Geht gar nicht. Wir müssen was dagegen tun. Und dafür ist es entscheidend, die Gemeinsamkeiten der verschiedenen Diskriminierungsformen zu erkennen und auf einer strukturellen Ebene zu bekämpfen. Bildung spielt hierbei eine zentrale Rolle. Deswegen schreibe ich das hier. Durch bewusste Aufklärung wie diesen Text und deine Reflexion als Leser über deine Sprache und dein Verhalten können bestehende Machtstrukturen hinterfragt und aufgebrochen werden. Der wichtigste und erste Schritt ist dabei, diskriminierende Sprache zu enttabuisieren und offen darüber zu sprechen, welche Auswirkungen bestimmte Begriffe und Ausdrücke auf die Betroffenen haben. Fängste jetzt direkt mit an, weil du hier erfahren hast, dass „früher hat das auch keinen gestört“ zwar richtig, aber nicht relevant ist. Relevant ist die Verletzung der Betroffenen.
Immediate Action SOP
Richtig tricky wird die Kiste, wenn du dich damit auseinandersetzen willst, wenn Menschen in deinem Umfeld diskriminierende Sprache verwenden. Ansprechen ist alternativlos, aber wir brauchen sicher keine „Sie haben diskriminiert“ – Konfrontationen. Über eigene Emotionen Andere zu Einsicht zu bewegen ist gelinde gesagt fragwürdig. Ich werde dich jetzt nicht mit Reaktanz – Theorien oder Dissonanzreduktionen verwirren. Denk lieber an die Militante Veganerin und verstehe an ihrem Beispiel, dass es einfach nicht funktioniert. Versuche es lieber mit kooperativer Höflichkeit. Die E-Mail, die ich auf meinen Podcast bekommen habe, ist dafür ein Idealmodell.:
- Respektvolle Wertschätzung: „Toller Podcast, weiß ich zu schätzen.“
- Differenzierte Kritik: „Manchmal vergreifst du dich im Ton.“
- Ggf. persönlicher Bezug: „Ein Familienmitglied ist behindert.“
- Höfliche Aufforderung: „Kannst du dir vorstellen, das XYZ zu vermeiden?“
- Alternative anbieten: „Du kannst Abschätzung auch direkt ausdrücken.“
Jetzt schreibst du vermutlich keine E-Mail, weswegen du das nicht als Anruf verstehen solltest, sondern als Gesprächsleitfaden. Die Situation ist klar und sofern sie einigermaßen isoliert stattfindet – also z.B. nicht in eine Peergruppe hinein – kannst du dich an diesen Inhalten im Verlauf des Gesprächs entlang hangeln: Du möchtest auf eine Alternative hinaus (nicht auf eine Entschuldigung), benutzt initial einen positiven Aufhänger und bist von Anfang an und bis zum Ende zurückhaltend, freundlich und vermeidest damit Reaktanz.
Probier’s mal aus und sag unbedingt Bescheid, wie es geklappt hat. Bei dir und bei anderen. Meine Ergebnisse findest du in meiner Instagram Story.
Literatur
Bonilla-Silva, E. (2014). Racism without racists: Color-blind racism and the persistence of racial inequality in America.
Campbell, F. (2009). Contours of ableism: The production of disability and abledness.
Gee, G. C., et al. (2007). The association of perceived discrimination and health: A meta-analytic review.
Herek, G. M. (2009). Sexual stigma and sexual prejudice in the United States: A conceptual framework.
Finkelstein, V. (1991). Disability: A human rights issue.
Meyer, I. H. (2003). Prejudice, social stress, and mental health in lesbian, gay, and bisexual populations: Conceptual issues and research evidence. Psychological Bulletin, 129(5), 674-697.
Puhl, R. M., & Heuer, C. A. (2010). Obesity stigma: A review of advances in theory and research.
Rosenberg, M. (2003). Nonviolent Communication: A Language of Life.
Sibley, C. G., et al. (2011). The role of language in the socialization of prejudice.
Sue, D. W., Cheng, J. K. Y., Saad, L., & Cheng, J. (2012). Disrupting the racist patterns in the therapy room.
Williams, D. R., & Mohammed, S. A. (2009). Discrimination and racial disparities in health: Evidence and needed research. Journal of Behavioral Medicine, 32(1), 20-47.