Gewalt gegen Lehrkräfte
Gepostet am 1. Juni 2023 von Tobias Brodala
Offensichtlich neue Lage
Verrückte Sache, Leute. In den vergangenen zwei Jahren zählen Lehrerinnen und Lehrer immer öfter zu den Teilnehmern meiner Seminare. Das ist deswegen ein verrückte Sache, weil meine Seminare sonst zu über der Hälfte von Selbstverteidigungstrainern und Polizeibeamten besucht werden. Ich bewerbe die Seminare deswegen immer unter dem Motto „Für Personen, die ein Problem mit Gewalt haben oder eines haben müssen.“ Nun, recht regelmäßig berichtet mein neuestes Klientel, dass man sich einer neuen Herausforderung gegenübersieht, auf die man im Rahmen der Aus- und Fortbildung nicht vorbereitet wird: Gewalt gegen Lehrer scheint bundesweit zu einer bedrückenden Realität geworden zu sein, die das Bildungssystem zunehmend beeinträchtigen könnte.
Dem Ruf der Hyäne gefolgt
Es gibt für diesen Artikel auch einen ganz aktuellen Anlass: Nämlich den Podcast „Ruf der Hyäne“. Der wird durchgeführt und produziert von Rouven Frank, einem renommierten Selbstverteidigungslehrer aus Gelsenkirchen. Mit dem Podcast bietet Rouven eine einzigartige Plattform für fachliche Stellungnahmen zu verschiedenen Themen im Zusammenhang mit Kampfsport und Selbstverteidigung an. In einer kürzlich stattgefundenen Folge hatten Rouven, zwei Lehrerinnen von Münchener Sonderschulen und ich die Gelegenheit, über das wachsende Problem der Gewalt gegen Lehrer zu diskutieren. Durch einen konzentrierten Blick und einen locker-plaudernden Ton wurden wichtige Aspekte dieser Problematik beleuchtet. Wer die beiden Lehrerinnen, namentlich Lena und Valentina, kennenlernen möchte, sollte unbedingt den Podcast „Leben im Lehrerwahnsinn“ hören und bei Gefallen abonnieren.
An vorderster Front
Das Gespräch verdeutlichte zusätzlich zu meinen Erfahrungen auf der Seminartour, dass verbale und physische Aggressionen an Schulen bedauerlicherweise zu einer beunruhigenden Normalität geworden sind. Weder Lena noch Valentina wurden nach eigenen Angaben konkrete Umgangsoptionen an die Hand gegeben, um solchen Situationen wirksam zu begegnen. Als Folge setzten sie in der Vergangenheit regelmäßig auf intuitive Optionen, was in den meisten Fällen zu positiven Ergebnissen führte. Obwohl direkte Aggressionen gegen sie in diesem Fall nicht berichtet wurden, ist anzumerken, dass ein potenzielles Bedrohungsszenario für Lehrpersonal weiterhin besteht, sofern gewalttätige Tendenzen überhaupt vorhanden sind. Lehrerinnen und Lehrer stehen in vorderster Front, um im Sinne ihrer Fürsorgepflicht solche potenziellen Gefahren abzuschwächen oder im schlimmsten Fall einzugreifen.
Diffuse Ursachen, schwere Folgen
Grundsätzlich kann sich Gewalt gegen Lehrer physisch, verbal und psychologisch manifestieren. Dabei finden fast ausschließlich Mischformen dieser drei Kategorien statt: Physische Gewalt umfasst körperliche Angriffe wie Schläge oder Schubser, während verbale Gewalt Beleidigungen, Bedrohungen oder Beschimpfungen beinhaltet, nicht selten kann das auch über das Internet geschehen. Psychologisch wirksame Gewalt kann Mobbing, Diskriminierung oder Stalking umfassen. Auch hier spielt das Internet, insbesondere die sozialen Medien, eine Schlüsselrolle. Ursächlich werden für gewalttätige Tendenzen von Lernenden eine Vielzahl von möglichen Faktoren verantwortlich gemacht. Dazu gehören Frustration oder Wut der Schüler über ihre akademischen oder persönlichen Probleme, unangemessenes Verhalten der Schüler in der Klasse, eine unangemessene Reaktion der Lehrer auf das Verhalten der Schüler und mangelnde Unterstützung durch die Schulverwaltung. Im Effekt kann Gewalt gegen Lehrer sowohl kurzfristige als auch langfristige Auswirkungen haben. Dabei gehören körperliche Verletzungen, emotionale Traumata oder Arbeitsplatzstress eher zu den kurzfristigen Folgen. Langfristige Auswirkungen beinhalten das Ausbilden von Depressionen, Angstzuständen und einem erhöhten Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen.
Besorgniserregender Ist-Zustand
Wirft man einen Blick auf die aktuelle Forschungssituation, bietet sich eine hervorragende Studie der Kollegen Bannenberg[1], Herden und Pfeiffer an (2023). Fokussiert auf das Land Hessen, aber stets im Vergleich zu Situation auf Bundesebene, erheben die Autoren einen akkuraten Ist-Zustand, der initial die Kriminalstatistiken für das Hellfeld beleuchtet und dann im Hauptteil über das Mittel der Befragung die Beteiligten zu Wort kommen lässt – stets mit einem Blick auf die Entwicklung der vergangenen 12 Monate und differenziert nach Schulformen. Die Studie wurde zwischen September und Oktober 2022 durchgeführt und analysiert auch Einflüsse der Covid 19-Pandemie auf dieses Phänomen.
Nachdem 4123 Lehrerinnen und Lehrer angeschrieben wurden und 723 Lehrkräfte teilnahmen, konnten 632 Fragebögen in die Studie aufgenommen werden – das ist eine effektive Rückläuferquote von etwas mehr als 15%. Spannenderweise war zwar die Teilnahmebereitschaft von Lehrerinnen insgesamt größer als die von Lehrern, jedoch nahmen mehr Lehrerinnen an Gymnasien Teil als Lehrerinnen an Sonderschulen, wobei Lehrerinnen an Sonderschulen wesentlich häufiger Ziel von Gewaltakten waren als es Lehrerinnen an Gymnasien waren. Zum einen entspricht das in etwa der Geschlechterverteilung im Berufsstand „Lehrer“, allerdings wirft es die Frage auf, warum unter der Gruppe der am meisten belasteten Personalien die geringste Teilnahmebereitschaft besteht. Dazu konnte auch die vorliegende Studie leider keine Auskunft geben.
Ich möchte an dieser Stelle nicht alle Ergebnisse dieser Studie referieren, zumal sie vorliegt und unter diesem Artikel verlinkt ist. Den empfehle ich natürlich absolut. Er ist einfach geschrieben und kann dank vieler Schaubilder leicht verstanden werden. Jedoch möchte ich einige ausgewählte Spitzen präsentieren, die vor allem den harten Kern meiner Zielgruppe interessieren sollten: die direkten körperlichen Übergriffe. Ganz wichtig und hoffentlich für jeden Profi selbstverständlich handelt es sich dabei nicht zwangsweise um die gefährlichste Form von Gewalt. Ich verweise dafür auf Kapitel 4.3, das die gesundheitlichen Konsequenten erlebter Gewalt- und Aggressionserfahrungen untersucht. Daneben ist vor allem Kapitel 4.4 besonders erwähnenswert, da 206 Lehrerinnen und Lehrer hier ganz offen von ihrem gravierendsten Erlebnis berichten. Stichpunktartig wird in diesem Kapitel eine Vielzahl von Fällen beschrieben, die einen realistischeren Eindruck der aktuellen Lage vermitteln als es Diagrammbalken jemals könnten.
[1] Ich kenne Prof. Bannenberg zufälligerweise persönlich, das sie sich an ihrem Lehrstuhl für Kriminologie an der Universität Gießen in der Vergangenheit auch mit dem Thema „Schulamok“ auseinandergesetzt hat. Auf Bundesebene durften wir mal zusammenarbeiten. Die zugehörige Publikation „Amok“ kann ich ebenso empfehlen wie ihr Beratungsnetzwerk Amokprävention. Als Kriminologin wird sie hervorragend ergänzt von Prof. Rebecca Bundü, einer herausragenden Psychologin, die ihre Arbeit in dieser Sache seit 2012 fortsetzt, und die Leitung des Fachbereichs Entwicklungs- und Familienpsychologie an der Psychologischen Hochschule Berlin innehat.
Tacheles – Hauen und Treten
In Kapitel 4.2.3 widmet sich das Autorenteam dem körperlichen Angriff als Gewaltform, einem Phänomen, das knapp ein Fünftel (18,6 %) der bundesweit befragten Lehrerinnen und Lehrer bereits mindestens einmal in ihrem Berufsleben erfahren haben. Dabei erleben Frauen (23,5 %) Gewalt im Schnitt doppelt so häufig wie Männer (11,7 %). Der Angriff ging zu 16,9 % von Schülerinnen bzw. Schülern aus und zu 3,6 % von Eltern. Gewalt durch anderweitig an der Schule Beschäftigte oder schulfremde Personen fanden zu weniger als 1 % statt.
68 % (Lehrerinnen) und 63,6 % (Lehrer) bestätigen dabei, dass sie mehrfach Opfer von Gewalt wurden. Mehr als die Hälfte von ihnen beziffert zwischen 2 bis 5 Vorfälle, 14 % geben an, mehr als 5 mal körperlichen Übergriffen ausgesetzt gewesen zu sein. Anders verhielt sich das bei den (vergleichsweise sehr seltenen) Angriffen durch Elternteile, die üblicherweise in Form von Einzelfällen stattfanden.
Das Meldeverhalten ist hier besonders interessant. Zwar geben 79,3 % (das sind 88 von 111 Personen) an, die gewalttätigen Vorfälle der Schulleitung gemeldet zu haben, jedoch wurden diese überaus selten zur Anzeige gebracht und jeder 5. Betroffene gab an, den Vorfall an „sonstige Stellen“ gemeldet zu haben. Prekär ist bei diesen Zahlen, dass zu einer auffällig hohen Zahl (n = 21-26 von 113) die Frage zum Meldeverhalten gar nicht beantwortet wurde, eine sogenannte Item-Non-Response. Das Feld wurde quasi leer gelassen. Auch an dieser Stelle kann man nur mutmaßen, warum das so ist.
Als Fazit dieses Unterkapitels steht ganz klar, dass Gewalt gegen Lehrer ein größeres Problem darstellt als es Gewalt ohne beruflichen Kontext ohnehin schon ist. Dem Leser sollte klar sein, dass sich diese berufsbedingte Sondergefährdung zusätzlich zu jeder anderen Form von Gefährdung für Frauen und Männer im Schuldienst hinzurechnet und anders als außerhalb der Schule das Entziehen aus der Situation selten eine Möglichkeit darstellt. Dabei spielen Gewalthandlungen von Lernenden gegen Lehrer die größte Rolle und diese betrifft doppelt so häufig Lehrerinnen als Lehrer, ereignet sich im beruflichen Werdegang meistens mehrfach, selten öfter als fünf Mal. Dieser recht hohen Inzidenz wird im Vorbereitungsdienst und dem Studium mit keiner Lehrveranstaltung entsprochen. Es gibt jedoch berufsbegleitende Angebote, die freiwillig besucht werden können.
Und die Politik macht…
…so Einiges. Aber bisweilen auch zu wenig. Wie kommt das? Bildung ist bekannterweise Ländersache, kann und muss aber in Angelegenheiten länderübergreifender Bedeutung miteinander koordiniert werden. Dafür gibt es die Ständige Konferenz der Kultusminister in der Bundesrepublik Deutschland, kurz Kultusministerkonferenz, noch kürzer KMK. Die hat zwar in unserer Sache kein großes Mitspracherecht, erweist uns aber einen herausragenden Service mit Beschlusssache vom 6.12.2018 in ihrer 364. Sitzung. In eben jener befasste man sich mit dem Thema „Prävention von Gewalt gegen Lehrer“ und stellte eine Übersicht der Maßnahmen aller Länder zusammen. Dabei handelt es sich um eine 50-seitige Tabelle, die die jeweiligen Länderkonzepte zusammenfasst und relevante Bausteine aufführt. Natürlich ist auch dieses PDF weiter unten verlinkt.
Ich wohne am Bodensee und vom Programm Baden-Württembergs bin ich einigermaßen beeindruckt. Die grundsätzliche Annahme, dass in einem positiven Lernklima mit einer gesunden Kommunikationskultur, die auf gegenseitiger Wertschätzung und Förderung von individuellen Potentialen basiert, eine effektive Präventionsstrategie besteht, teile ich. Ebenso finden wir hier eine Ursachendifferenzierung in der Vielzahl der Fortbildungsangebote mit sehr individuellem Aufforderungscharakter. Freilich wird „Humor und Gewaltprävention: Lachen verleiht der Seele Flügel“ keine kriminellen Tendenzen aushebeln, sehr wohl aber „Faires Ringen und Raufen als Möglichkeit der Gewaltprävention an Schulen“. Ebenso gibt es Fortbildungsmöglichkeiten speziell für Lehrer, z.B. „Gewaltprävention und Selbstverteidigung für Lehrkräfte“ und speziell für Schulleiter, z.B. „Praxisorientierte Führungskommunikation“. Zusätzlich besteht in Abteilung 7 des Regierungspräsidium ein multiprofessionell aufgestelltes Kriseninterventionsteam, das von den Schulen angefordert werden kann und beratend zur Seite steht bei akuten Lagen, in der Prävention und Nachsorge. In viereinhalb Seiten umreißt die KMK Konferenz ein sehr sinnvoll anmutendes Konzept zur multifaktoriellen Handhabung von gewalttätigen Tendenzen gegen Lehrkräfte. Ich bin also wirklich beeindruckt und erkenne zumindest auf Papier die Bereitschaft, diesem Problem Herr zu werden.
Berlin dann mal so
In zehn Zeilen stellt sich das „Berliner Programm gegen Gewalt an Schulen“ als Basisdefinition des Problems dar mit dem Anspruch, viele Bereiche ihrer Arbeit wie „…Prävention, Aufklärung, Training und Fortbildung im Kontext von Anti-Gewalt- und Anti-Mobbing-Maßnahmen…“ zu intensivieren. Außerdem wird im „…Rahmenlehrplan Berlin-Brandenburg […] ein Orientierungs- und Handlungsrahmen Gewaltprävention verankert.“. Herzlichen Glückwunsch.
Da haben wir’s, Föderalismus
Es zeigt sich hier ein doppeltes Problem. Einerseits bestehen von Land zu Land erhebliche Unterschiede, wie man der steigenden Gewalt gegen Lehrkräfte begegnen kann. Dagegen wird man nichts tun können, Bildung bleibt Ländersache. Zweitens handelt es sich bei diesen Fortbildungsprogrammen um Angebote, die auch angenommen werden müssen. Das ist keine Ländersache mehr, sondern es entscheidet sich von Schule zu Schule, ob eine Menge Geld damit rausgeworfen wird, diese Programme zu erstellen ohne dass sie jemand in Anspruch nimmt oder ob man mit einem minimalistischen Ansatz wie der Einbeziehung einer lokalen MMA Schule bereits kleine Unterschiede in der Kommunikationskultur einer Schule erreichen kann.
Ich wiederhole
Jedem Leser sei die Lektüre der verlinkten Ressourcen ans Herz gelegt. Dieser Artikel hat ohnehin Moderationscharakter. Ich möchte ihn deswegen nicht mit einem Fazit aufdehnen. Stattdessen möchte ich meine Kernaussagen aus Rouvens Podcast wiederholen, damit eine konstruktive Botschaft diesen Artikel abschließt.