Kompetenztheorie Messerabwehr

Tobias Brodala & Stefan Reinisch

Gepostet am 30. November 2023 von Tobias Brodala

Hast du überhaupt eine Chance?

Es gibt doch wirklich kein Seminar oder Video über Selbstverteidigung, ohne dass irgendwann jemand auf die Idee kommt, man könnte auch irgendwie noch was mit Messern machen. Letztlich gibt’s auch immer mehr Schutzkonzepte, die als Grundidee den Schutz gegen bewaffnete Übergriffe in den Fokus nehmen und alle anderen Probleme eher randweise mitbearbeiten. Dazu gesellen sich äußerst konträre Ansichten, von „Wir sterben sowieso alle“, bis „Nur Stichschutzwesten retten uns“.

Das Evergreen der Selbstverteidigung

Wie ich in Episode 8 von meinem Gewaltig Podcast schon angesprochen habe, reagieren die meisten Leute auf das Thema Messer mit Angst. Die Angst trifft jedoch den Falschen: Weder haben wir eine Konfrontation mit dem Messer, noch haben wir Streit mit dem Messer. Das Messer will uns nicht ausrauben, und wir können gegen das Messer auch nicht gewinnen. Gerade in diesem Bereich ist oft sehr viel Leidenschaft im Spiel. Vorsicht jedoch, dass diese Leidenschaft nicht zu Lasten der Lebensqualität geht. Zur Verdeutlichung ein Beispiel: Ein Bekannter von mir investiert seine gesamte Trainingszeit in Kali (eine Form des philippinischen Messerkampfes). Bewegt er sich nun im öffentlichen Raum, also dort, wo viele Menschen zusammen kommen, ist er in erhöhter Alarmbereitschaft. Jedes Mal also, wenn eine andere Person in die Tasche greift, um sein Handy oder seine Geldbörse hervor zu holen, sieht er bereits ein Messer. Sehr zum Leidwesen seiner Frau, die seit Langem vergeblich auf Entspannung, geschweige denn Romantik hoffen muss.

Eine Kompetenztheorie

Was ich nun als Gegengewicht zu diesen Tendenzen und Leidenschaften mit diesem Artikel versuche, ist es, dir einen Überblick zu ermöglichen. Du sollst wissen, was du alles können musst, um erfolgreich gegen Bedrohungen und Übergriffe zu handeln, in denen ein Messer eingesetzt wird. Man kann das eine kleine Kompetenztheorie nennen. Das ist im Wesentlichen ein Rahmen, der sich mit den Fähigkeiten, Fertigkeiten, Wissen und anderen Eigenschaften befasst, die eine Person benötigt, um effektiv in einem bestimmten Bereich oder in bestimmten Aufgabenbereichen zu agieren. Dabei verzichte ich ausdrücklich darauf zu beschrieben, wie diese Kompetenzen erworben, gemessen, entwickelt und angewendet werden können. Eine vollumfängliche Kompetenztheorie würde das leisten müssen. Aber das muss ja nicht der letzte Artikel zu diesem Thema sein.

Die Konfrontation „mit dem Messer“

Menschliche Interaktionen und besonders Konflikte folgen nicht immer demselben Schema. Sie sind vielfältig. Entsprechend sollte man sich auch im Training nicht nur mit einem bestimmten Szenario als dem einzig wahren oder wahrscheinlichen auseinander setzen.

Um aber Struktur in die angesprochene Komplexität zu bekommen, definieren wir erst mal, worum es beim Thema „Messerkonfrontationen“ überhaupt gehen könnte. Ich biete hier zwei Bereiche an. Diese Unterscheidung folgt der Absicht, mit der ein Messer eingesetzt werden kann:

Ein Messer kann als Werkzeug zur Kommunikation eingesetzt werden. Klingt erstmal ein wenig harmlos, kann sich außerhalb eines Blogartikels jedoch extrem folgenschwer ereignen. Wir denken dabei an einen Raub, eine Geiselnahme, eine Entführung, Vergewaltigung und ähnliches. Das Messer unterstützt und verstärkt das Anliegen des Täters in bedrohlicher Weise. Ihm stehen ohne den gefährlichen Gegenstand offensichtlich nicht hinreichende Mittel zur Durchsetzung seiner Absichten zur Verfügung, sodass er sich erst mit dem Messer ein hinreichendes Dominanzmoment verspricht.

Der vermutlich aussichtsreichste Ansatzpunkt für unsere Vorbereitung auf derartige Konfrontationen besteht darin, in der Kontrolle der entstandenen Situation besser zu werden. Wir sollten dazu herausfinden, was das Gegenüber ganz konkret will, müssen erörtern, ob wir ihm das überlassen können und wo gegebenenfalls Chancen für einen Kompromiss bestehen, der auf unserer Seite über das Element der Sicherheit verfügt. Selbstverständlich sollten wir uns darüber Gedanken machen, wie es weitergeht, wenn wir darin scheitern, doch initial sollte es unser Anliegen sein, den aktiven Einsatz des Messers bestenfalls zu verhindern. Denn sollte durch unsere Initiative oder unser Versagen in der Situationskontrolle das Messer seinem genuinen Zweck zugeführt werden, haben wir es mit der Kehrseite zu tun:

Das Messer kann als Instrument des Todes eingesetzt werden, entweder improvisiert oder in geplanter Absicht. Improvisiert erfolgt der Einsatz, wenn die zuvor stattgefundene Kommunikation (siehe oben) scheitert oder wenn der Täter – z.B. während einer Kampfhandlung  – feststellt, dass er mit den ursprünglichen Mitteln keinen Erfolg hat und daher zum Messer greift. Um hier Erfolg zu haben, sollten wir lernen, diesbezügliche Vorkontakthinweise zu erkennen. Manchmal werden wir sie erkennen, manchmal nicht. Absolute Aussagen darüber zu treffen wäre unseriös. Die weitere Vorgehensweise folgt dem Prinzip CCC – Clear, Control, Counter„.

Wording und Konzept entstammen wie so oft in meinen Artikeln dem Gedankengut hinter Tony Blauers SPEAR-System. Wörtlich übersetzt bedeuten diese Worte Klären, Kontrollieren und Kontern. Dabei handelt es sich weniger um das cleverste je erdachte Schutzkonzept, sondern die offensichtlich beobachtbaren Momente bei Kampfhandlungen, in denen ein Messer eine Rolle spielt:

Klären meint alle Maßnahmen, die verhindern sollen, dass das Messer oder der sonstig gefährliche Gegenstand direkt mit meinem Körper in Berührung kommt.

Kontrollieren bedeutet die Kontrolle über die Waffe oder indirekt den die Waffe führenden Arm.

Konter ist logisch fortgesetzt, aber extrem breit definiert, die Schädigung des Angreifers, sodass von diesem keine Gefahr mehr ausgeht. Es kann sich dabei um eine absichtsvolle Maßnahme handeln (z.B. den Einsatz der eigenen Schusswaffe oder heftige Schläge), aber auch um situative Geschehnisse wie z.B. orthopädische Probleme, die entstehen können, wenn man sich martialisch-dynamisch gemeinsam durch das Mobiliar bewegt.

Mitigation der geplanten Tötung

Wird das Messer geplant eingesetzt, so stellt das für uns den worst case dar. Die Absicht des Täters steht von vornherein fest. Um sein Ziel bestmöglich zu erreichen, wird er unter Umständen nicht aggressiv agieren, sondern uns sehr nahe kommen und seine Absicht heimtückisch und plötzlich umsetzen. Dann stehen unsere Chancen auf Unversehrtheit recht schlecht. Allerdings ist für einen Menschen in einem normalen Lebens- und Arbeitsbereich ein derartiges Szenario erfreulich unwahrscheinlich.

Besteht jedoch aufgrund unserer Lebensumstände tatsächlich eine derartige Gefahr, stehen die Chancen ganz gut, dass wir das wissen, z.B. weil wir sehr extrovertiert oder prominent leben, Politiker sind oder einen regelhaft gefährlichen Freundes- und Feindeskreis pflegen. Das verschafft uns den Luxus, Präventivmaßnahmen zu ergreifen. Diese können in einem verstärkten Schutz des Hauses oder der Wohnung bestehen oder generell im Einhalten eines größeren Abstandes zu Menschen. Im Zweifelsfall kann gar das regional zuständige Kommissariat Vorbeugung ein beratendes Auge auf unsere Haussicherheit werfen und Optimierungsoptionen aufzeigen. In Deutschland ist das kostenlos.

Natürlich gilt auch für diesen Bereich letzten Endes das Konzept Klären, Kontrollieren, Kontern – wie erwähnt mir mäßigem Optimismus ob der Erfolgschancen bei geplanten Tötungen.

Additive Strategien

Als letztes Mittel für zusätzliche Sicherheit bleiben uns so genannte abschwächende Maßnahmen, wie z.B. stich- und schnitthemmende Westen. Man beachte das oft überlesene Attribut „hemmend“, das absolut nicht markiert, dass hier irgendetwas ganz sicher verhindert wird. In besonderem Maße gilt das für alle Bereiche außerhalb des primär geschützten Torso: unsere Extremitäten. Die müssen arteriell versorgt werden, und insbesondere bei bequemen Westen fehlt nicht nur der offensichtliche Schutz der distalen Extremität, sondern auch die Übergangszone zum Körperstamm. Penetrierende Traumata in diesem Bereich führen rasch zu einem massiven Volumenmangel. Somit sollte äußerst klar sein, dass eine solche Weste nur eine ergänzende Maßnahme zu den ausgeführten Kompetenzen darstellen kann.

Medizinisches Management

Für beide Bereiche – also Messer als Werkzeug wie auch das Messer als Instrument – bleibt schlussendlich die Frage unübersehbar, wie massive arterielle Blutungen gestoppt werden können. Dass dieser Bereich bis zuletzt nicht Teil lebensrettender Sofortmaßnahmen für dir Führerscheinprüfung sein kann, erschließt sich mir nicht. Schließlich muss es nicht mal ein Messer sein, das unser arterielles System eröffnet oder gar eine Extremität abtrennt. Derartig herbeigeführter Volumenmangel stellt in sämtlichen einsatzorientierten Medizinkonzepten die relevanteste vermeidbare Todesursache dar.

Schritt 1: Woran erkennen wir, dass wir gerade verbluten ohne dass es uns unmittelbar aufgrund der Blutung bewusst ist? Die Sicht verschwimmt, ähnlich einem eher leichten Migräneanfall. Bisweilen kann man bei Patienten den Versuch erkennen, diesen Eindruck zu kompensieren, wenn sie kurz vor dem Ableben zwinkern.  Andernfalls ist aus dem Gewebe pulsiert beschleunigtes Blut ein guter Indikator für eine arterielle Eröffnung oder heftige schwallartig den Körperstamm verlassende Blutmassen.

Schritt 2: Damit es nicht soweit kommt, dass wir davon eintrüben, sollten initiale Gegenmaßnahmen im Druck auf die Wunde bestehen. Hat man sonst nichts dabei: „hand on red“, idealerweise bemüht man ein Tourniquet bei Verletzungen an den Extremitäten, bei weniger gravierenden eine spezielle Bandage oder tamponiert Blutungen außerhalb derer Wirkungsbereiche.

Schritt 3: Die unbedingte Vorstellung bei einem Notfallmediziner und, sofern dessen Maßnahmen erfolgreich sind, wenige Zeit später bei einem psychologischen Psychotherapeuten.

Auf geht‘s

Als wichtigster Absatz erfolgt an dieser Stelle keine Zusammenfassung, zumal die unten stehende Grafik das ganz gut übernimmt, sondern ein ganz furchtbar dringender Hinweis: Dieses Wissen macht nicht sicher. Es soll den Weg weisen. Denn sowohl Situationskontrolle wie auch der Kampf um die Herrschaft über einen gefährlichen Gegenstand und in besonderem Maße medizinische Sofortmaßnahmen verlangen ein intensives, realitätsnahes und vor allem fortdauerndes Training. All jene Kompetenzen unterliegen einem individuellen Verfallsdatum, weswegen nicht nur die Auseinandersetzung vermittels dieses wunderbaren Artikels essentiell ist, sondern der wiederholte Besuch qualifizierten Fortbildungspersonals notwendig wird. Dafür wünsche ich viel Erfolg und ausreichend Motivation.

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