Mindset im Selbstschutz
Tobias Brodala & Stefan Reinisch
Gepostet am 5. Dezember 2023 von Tobias Brodala
Gespaltene Meinungen
In der Combatives-Szene kursiert offenbar eine 90 : 10-Regel, welche besagen soll: „Für erfolgreiche Selbstverteidigung sind 90% Mindset erforderlich und 10% Fähigkeiten“1.
Diese Aussage wird allerdings auch innerhalb der Combatives-Szene vielfach kritisiert, weil die Fähigkeiten damit massiv unterbewertet würden. Einzelne gute Leute gehen da eher spaßbetont an die Problematik und postulieren die Wichtigkeit von 100% Mindset und 100% Fähigkeiten.2 Dieser Botschaft kann ich grundsätzlich zustimmen. Bei der Verhältnismäßigkeit von Mindset zu Fähigkeiten halte ich jedoch im Zweifelsfall das Mindset für wichtiger, weil es steuernden Einfluss auf unsere Fähigkeiten hat. Warum das so ist, und was ein Mindset überhaupt ist, darum soll es in diesem Artikel gehen. Soviel sei bereits jetzt gesagt: Mindset ist nicht dasselbe wie Einstellung, Überzeugung oder gar Wunschdenken.
Von Kindern und Erwachsenen
Dieser Unterscheidung liegen mehrere Studien zur Ergründung der Motivation von Kindern bei Lernprozessen zugrunde.3 Auf eventuelle Einwände, die ich hier seitens Erwachsener vermute, man könne jene Effekte bei Kindern nicht auf Menschen jenseits der 20 Jahre projizieren: doch. Zwar findet Lernen bei Kindern und Erwachsenen nicht deckungsgleich statt, jedoch sind die wesentlichen Bausteine identisch und funktionieren teilweise weniger gehemmt bei Erwachsenen:
- Neuroplastizität. Unser Gehirn bleibt lebenslang anpass- und formbar. Das gilt auch für ältere und auch sehr alte Menschen. Oft fehlt es im Alter eher an Anlässen/Reizen als an Funktionalität.
- Selbstregulation. Erwachsene reflektieren besser als Kinder. Gemäß Lerntheorie zeigt sich, dass gezielte Anstrengung, Belohnung und Üben durchaus neue Denkmuster etablieren kann.
- Belohnungssysteme. Erwachsene durchschauen diese zwar besser, was experimentell problematisch sein kann, können aber Fortschritt kompetenter als Motivation bewerten und sich dadurch selbst motivieren.
- Kognitive Umstrukturierung. Neue Denkweisen zu etablieren ist für Erwachsene tatsächlich etwas komplizierter. Dennoch zeigen Erfolge bei kognitiven Therapien, dass das möglich ist und auch nachhaltiger funktioniert.
Entering Mrs. Carol Dweck
Daher ziehe ich die folgende Studie4 der Entwicklungspsychologin Carol Dweck heran, um das Konzept des Mindsets zu erklären, auch wenn sie aus Gründen des Experimentaldesigns mit Kindern durchgeführt wurde. Letztlich ging es darum festzustellen, inwieweit die Bewertung von Erfahrung einen Einfluss darauf hat, wie motiviert man auf Herausforderungen zugeht oder eher vor ihnen zurückschreckt. Dabei ging man folgendermaßen vor:
Schritt 1: Eine Gruppe von Kindern wurde nach einer Serie von sehr einfachen Denkaufgaben aus einem IQ Test sinngemäß gelobt: „Ihr seid richtig intelligent.“ Die Kinder einer anderen Gruppe entsprechend: „Ihr habt euch richtig gut angestrengt.“
Schritt 2: Anschließend sollten sich die Kinder einen von zwei Tests als nächste Aufgabe aussuchen. Einer wurde als sehr schwer vorgestellt, sei aber eine tolle Möglichkeit, zu lernen und zu wachsen. Die alternative Option sei ein Test, der sehr einfach und leicht zu lösen sei.
Schritt 3: Man untersuchte die Antworten. 76% der Gruppe, die für ihre Intelligenz gelobt wurde, wählten die leichte Testoption und 92% der Gruppe, die für ihre Anstrengung gelobt wurden, entschieden sich für den schwereren Test. Dadurch ergab sich eine Art Basisline: Eine Gruppe, die sich auf ihre Ressource, hier die gelobte Intelligenz, verlässt und eher vor Herausforderungen zurückschreckt und eine Gruppe, die sich sicher ist, dass hartnäckiges Arbeiten eine gute Strategie ist und deutlich eher Herausforderungen annimmt.
Schritt 4: In weiterer Folge stellte man beiden Gruppen dieselbe unlösbare Aufgabe. Was man dabei gefunden hat:
- Die Teilnehmer der Gruppe, die sich einzig auf ihre Ressource verlassen hat, haben früher und frustrierter aufgegeben.
- Die Teilnehmer der Gruppe, die sich auf die Kraft ihrer Bemühungen verlassen hat, konnten sich länger und intensiver mit dieser Aufgabe auseinander setzen und hat auch überlegt, wo Fehler ihrerseits liegen könnten.
Schritt 5.1: Als letztes wurde den Kindern erneut ein Test vorgelegt. Diesmal einer, der ähnlich leicht war wie der erste. Dabei schnitt die Gruppe, die für ihre Intelligenz gelobt wurde, 20% schlechter ab als im ersten Test und die Gruppe, die für ihre Anstrengung gelobt wurde, 30% besser.
Schritt 5.2: In einer Folgestudie wurden die Kinder gefragt, wie sie sich in Zukunft verhalten würden, wenn sie mit ähnlichen Aufgaben konfrontiert wären.
- Die Kinder, die für ihre Anstrengung gelobt wurden, waren der Meinung, sie würden sich entsprechend bemühen, diese Herausforderung zu bewältigen. Sie gingen also davon aus, an der Herausforderung zu wachsen und Dweck bezeichnete diese aus bewerteter Erfahrung geborene Geisteshaltung als Dynamisches Mindset bzw im Original als „Growth Mindset“, also Wachstums-Mindset.
- Die Kinder der anderen Gruppe (die also für ihre Intelligenz gelobt wurden) dagegen sagten als Antwort auf dieselbe Frage, sie würden betrügen, sie würden jemanden finden, der noch schlechter ist als sie oder sie würden diese Aufgaben vermeiden. Diese Haltung wurde von Dweck als Starres Mindset oder englisch „Fixed Mindset“ geprägt.
Problematik in der Selbstverteidigung
Der Bezug zur Thematik des Artikels sollte offensichtlich sein: Nicht nur kommt uns ein Starres Mindset in der Kampfsportszene recht bekannt vor. Sicher kennt der geneigte Leser den einen oder anderen alten (starren) Hasen, der schon eine längere Zeit einen bestimmten Kampfsport oder eine bestimmte Kampfkunst leidenschaftlich betreibt:
„Da geht nur noch Technik XYZ.“
„Da kann man nichts mehr machen.“
„Bei einem Messerangriff wird man immer verletzt.“ 5
Und auch das von Dweck beschriebene Vermeidungsverhalten, z.B. in Bezug auf die Methode Sparring oder andere dynamische Trainingsformen, ist bezeichnend für diese allseits bekannte Gruppe von Kampfsportlern, -künstlern oder Selbstschutztrainern.
Viel bedrohlicher ist das Problem des Starren Mindsets jedoch für Lernende und noch mal problematischer bei Lehrenden. Die Besonderheit in der Selbstverteidigung im Gegensatz zu kampfsportlichen Betätigungen ist ja explizit die Vorbereitung auf eine unbekannte, neue Herausforderung, die wir im Training nicht abbilden können. In diesem Kontext auf dem zu beharren, was man denkt bereits zu können oder auch tatsächlich kann, ist ein krasser Gegensatz zur gestellten Problematik und führt jegliche Bemühungen ad absurdum.
Mühsam, aber lohnenswert
Der gegenteilige Prozess des Scheiterns und der Auseinandersetzung mit den scheinbar (noch) unlösbaren Aufgaben ist natürlich unattraktiv, führt aber dazu, dass wir uns neue Fähigkeiten aneignen. Das ist der Grund dafür, warum ich das Mindset höher bewerte als die reine Fähigkeit. Ein Dynamisches Mindset sorgt in der Folge dafür, dass wir unsere Fähigkeiten immer weiter vergrößern und nicht von vornherein sagen: „Das schaffe ich nicht“. Sollten wir scheitern, werden wir unsere Fehler evaluieren und daraus lernen.
Definiere „Mindset"
Somit darf ich Dank der Kollegin Dweck Mindset definieren als die aus bewerteter Erfahrung entstandene Denkweise über die eigenen Eigenschaften und Fähigkeiten.
- Es muss eine Erfahrung gemacht werden. Denken reicht nicht.
- Die muss selbst bewertet werden. Ohne Reflexion kein Mindset.
- Reizintensität und Dichte passen.6 Einmal ist kein Mal und easy gibt’s nicht.
- Eine Denkweise entsteht. Sie wird nicht selbstherrlich definiert.
- Sie betrifft Eigenschaften und Fähigkeiten. Kein unpersönliches Ideal.
Der die Wissenschaft schätzende Leser wird nun den meisten Mindset-Talks und mancher Veröffentlichung seines Lieblingshelden kritischer gegenüber stehen. Gut. Lieber Leser, du bist weder Chris Craighead noch Jocko Willink oder Loki Schmidt. Auch wenn du es dir jeden morgen dreimal laut in den Spiegel meditierst. Dennoch können wir die Theorien um das Mindset für die Selbstverteidigung operationalisieren, also so nutzen, dass wir damit arbeiten können. Und zwar vollkommen beliebig. Relativ. Innerhalb der freiheitlich demokratischen Grundordnung. Nämlich indem wir aus der fünfstufigen Formel von oben das fünfte Element eines Mindsets (Eigenschaft & Fähigkeit) als Lernziel definieren und das erste Element (Erfahrung) in Verbindung mit dem dritten Element (Intensität & Dichte) methodisch aufladen.
Operationalisieren für die Selbstverteidigung
Als Beispiel möchte ich das für zwei Kompetenzen in der Selbstverteidigung vormachen, über deren Benefit vermutlich keinerlei Uneinigkeit (innerhalb der ernstzunehmenden Binnen-Szene) besteht.
A. Resilienz
Wenn wir diesen Begriff für die Selbstverteidigung instrumentalisieren, dann wäre ein wesentlicher Faktor von Resilienz die Fähigkeit, Belastungen zu bewältigen, sich anzupassen und trotz Wirkungstreffern weiterzumachen.
- Eine extrem sinnvolle Methode für das Erleben von sinnstiftenden Erfahrungen in diesem Kontext ist das Sparring. Dabei ist es nicht so wichtig, ob es ein Boxsparring ist, ein MMA Sparring oder eine Isolationsübung wie Verteidigen in der Ringecke. Aber ein wesentliches Element sollte sein, dass wir dabei Schläge einstecken und dabei kompetent bleiben. Das beschreibt auch die Einsatzregeln innerhalb dieser das Mindset kultivierenden Methode: Es muss progressiv gesteigert werden, sollte aber niederschwellig beginnen. Wie es eigentlich in jedem guten Gym oder Verein üblich sein sollte.
- Die Bewertung erfolgt nicht durch den Trainer, sondern den Athleten. Der Trainer kann diese Reflexion moderieren: „Wie fühlt sich das für dich an?“ und „Was sind deine Gedanken, wenn du Treffer kassierst?“ bis hin zu „Was könnte dich motivieren weiterzumachen, auch wenn die Bewusstlosigkeit droht?“.
- Das Sparring erreicht mit der Zeit die notwendige Härte, sodass eine wahre Herausforderung entsteht.7 Durch die Wiederholung ergibt sich eine neue Normalität. Eine exakte Wiederholungszahl ist hier nicht zu nennen, da die eigene Biografie und deren Erleben das Gegengewicht zur neuen Norm darstellen. Wenigstens mehrmals wöchentlich sollte im Falle der Methode Sparring aber eine ausreichende Dichte an Reizen darstellen.
- Beim Athleten entsteht gemäß Progressionsschema die Denkweise, dass Schläge nicht so schlimm sind. Er weiß, dass er getroffen werden kann und deswegen nicht umfällt, bewusstlos wird oder sterben muss. Denn er hat es erlebt. Er hat es reflektiert. Er ist sich über seine Fähigkeiten jetzt im Klaren.
- Er ist resilienter AKA er hat ein „Resilientes Mindset“.
B. Emotionale Stabilität
Bezüglich der emotionalen Stabilität würden wir uns für Trainierende wünschen, dass sie auch in einer bedrohlichen Situation in der Lage sind, ihre Emotionen zu regulieren, Angst zu kontrollieren und insgesamt einen klaren Kopf haben, um sinnvolle Entscheidungen zu treffen.
- Ein Szenariotraining könnte den Fokus auf emotional aufgeladene Momente in der Bedrohungslage lenken und derart eine Art künstliche Erfahrung ermöglichen. Der Fokus müsste auf dem Erlebnis liegen, der Auseinandersetzung mit bedrohlichen Stimuli, und auch hier: initial unbedingt in einem Grad der Beanspruchung stattfinden, der handhabbar ist. Das könnte die Bedrohung mit einem echten Messer sein (ganz wichtig: super dichtes Sicherheitsnetz an Einsatzregeln) oder auch das Anschreien einer Dame mit Profanitäten aus der untersten Schublade menschlicher Wertezuschreibungen. Der Trigger sollte zum Probanden passen.
- Auch hier sollte der Lernende seine Erfahrung bewerten. Da es um Emotionen gehen soll, stehen zuerst Gefühle im Vordergrund. Ebenso wie deren Auswirkungen auf den kognitiven Teil der Emotionen („Was sagt dir das?“) und deren Auswirkungen auf Handlungsmomente („Was fiel dir schwer umzusetzen?“) sowie Handlungsinhalte („Was konntest du tun?“).
- Die Wiederholung von Erfolgserlebnissen und Reflektieren von Rückschlägen erzeugen ein inneres Wachstum, das nach und nach invasivere, persönliche Elemente zulässt und Zugang zur Arbeit an individuellen Schwächen ermöglicht. Sobald die Intensität von Szenariotrainings auf das Level halbwegs realer Lagevorbilder gelangt, wird an einem relevanten Mindset gearbeitet.
- Sinnvoll begleitet entsteht beim Lernenden die innere Überzeugung, dass seine Emotionen eine gewisse Funktionalität haben, ihn nicht umbringen und dass sie nicht im Gegensatz stehen müssen zu kompetentem Denken und Handeln. Er vertraut seinem Gesamtsystem von Bizeps bis Hirnstamm und versteht sich als komplexes Body & Mind – Konstrukt.
5. Er etabliert Stabilität AKA „Fearless Mindset“.
Ausschlusskriterien
Grundsätzlich kann der professionelle Trainer damit jede Form des Mindsets ausbilden und auf die meisten Motivationsbücher verzichten. Gäbe es da nicht die speziellen Ausnahmen, die jede Regel bestätigen sollten.
- Es gibt bereits ein diametrales Mindset.
Insbesondere, wenn wir mit Opfern von Gewalt arbeiten, bestehen hier oft Grenzen, die auch der beste Selbstschutztrainer nicht übertreten sollte. Denn ein Opfer-Mindset wurde mit nicht-künstlichen Mitteln gebaut und besteht oftmals wesentlich solider. Dagegen anzukämpfen ohne Fachexpertise eines psychologischen Psychotherapeuten ist nicht nur recht aussichtslos, sondern kann in schlimmen Problemen enden. Hier bitte auf jeden Fall die Nähe des behandelnden Psychologen suchen oder Abstand nehmen von Laienversuchen.
- Der Wille zur Kooperation fehlt.
Ein Lernender, der nicht lernen will, kann nicht innerhalb der freiheitlich demokratischen Grundordnung in seinen Lernerfolg hineinmanipuliert werden. Die Bewertung des Erlebten – und damit die Reflexion als Baustein der Umstrukturierung – muss zwingend über das Element der Freiwilligkeit verfügen. Es entsteht zwar auch ohne Freiwilligkeit ein Mindset. Das wird aber in den seltensten Fällen dem vom Lehrenden angestrebten entsprechen.
- Der Lernende wird überfordert.
Man kennt in Selbstschutzkreisen die Idee „Erfahrung ist wichtiger als Training“. Wenn dem so wäre, dann wären Frauenhäuser voller Personen, die besser aufgestellt wären als Menschen, die Training erhalten. Denn die hätten ja die so wichtige Gewalterfahrung. Das trifft natürlich nicht zu. Denn ohne die professionell begleitete Bewertung der Erfahrung und die sorgfältige Regulation der eingesetzten Lernstimuli, ist es absolut möglich, Mindsets auszubilden, die jenen von Gewaltopfern in Teilen entsprechen. Ebenso das Gegenteil, angstbissige und gefährliche Schläger und mehr oder weniger alles links und rechts davon.
Motivation zum Motivieren
Die Arbeit an Mindset ist dennoch kein sehr schmaler Grat. Denn selbst, wenn man Menschen oder sich selbst bisweilen überfordert und damit per se belastet, traumatisiert man sie noch lange nicht. Deswegen spricht beispielsweile nichts gegen eine gesunde Härte im Sparring oder die verbale Misshandlung im Szenariotraining, wenn das Trainingssubjekt frei von seelischen Störungen ist und Lust auf diese Entwicklung hat. Sofern alle Beteiligten den gemeinsamen Lernprozess bejahen und die erwähnten fünf Schritte einigermaßen beherzigen, sollte nicht viel schiefgehen. Naja. Wenn die Ziele nicht zu hoch oder fantastisch sind. Warrior-Mindset, Survival-Mindset, Killer-Mindset – bitte mitdenken, liebe Freunde.