Vorkampf

Tobias Brodala & Stefan Reinisch

Gepostet am 28. November 2023 von Tobias Brodala

Bereit für Gewalt = gewaltbereit?

Was passiert eigentlich, bevor es »knallt«? Hier erkläre ich die Phase vor dem Ereignis, die Vorkampfphase und die Vorkontaktphase. Dabei ganz wichtig, ich vermittle dir auch, worauf es jeweils ankommt oder in anderen Worten, taktische Imperative.

Entering Gavin de Becker

Der ein oder andere kennt vielleicht Gavin de Beckers Buch „The Gift of Fear“. Der professionelle Selbstschutztrainer sollte das unbedingt einmal gelesen haben. Er benutzt darin den Begriff „Pre Incident Indicators“.

Gavin de Becker beschreibt damit Verhaltensweisen des Gegenübers, die darauf hinweisen, dass dieser eventuell etwas vorhat, wobei das nicht unbedingt ein körperlicher Übergriff sein muss. Auffällig wäre dabei z.B., wenn unsere Zurückweisung, unser wiederholtes Nein nicht akzeptiert würde oder künstlich eine Gemeinsamkeit hergestellt würde.1 Das Problem dabei ist, dass diese Hinweise zwar beachtet werden sollten, aber auch etwas ganz anderes bedeuten können.

Von früh bis spät

Ziel dieses Artikels ist es, einen breiten Blick in die Ereignisse vor einem gewalttätigen Übergriff zu werfen und jeweils taktische Empfehlungen zu liefern, damit der Anwender nicht im letzten Moment und mit geringen Chancen versuchen muss, Gewalt in ihrem gefährlichsten Augenblick zu stoppen. Dabei gehe ich in drei Schritten von sehr frühen und indirekten Hinweiszeichen über unspezifische Anzeichen eines bevorstehenden Übergriffs bis zum letzten Moment, den Anzeichen des unmittelbaren Einschlags, vor.

Vor dem „Ereignis"

Für die erste Art an Hinweisen werde ich die Bezeichnung „Pre Incident Indicators“ ebenfalls verwenden, allerdings in einer umfassenderen Bedeutung, nämlich dahingehend, dass damit generell Hinweise auf ein Ereignis zu verstehen sind, ein Ereignis, das in irgendeiner Form eine Gefahr für uns darstellt, ab jetzt bezeichnet als Ereignis-Hinweis. Nach diesem Verständnis kann das ein Terroranschlag genauso sein wie ein Autounfall oder eine Selbstverteidigungssituation.

Beispiel Terroranschlag: Nach den Anschlägen von 9/11 haben viele Zeugen ausgesagt, dass sie irgendwie das Gefühl hatten, dass gleich etwas passieren würde. Damit sind wir wieder bei einem Gefühl der Intuition, auf das ich in Episode 29 meines Podcasts eingehe: ein Reiz wurde von uns nicht bewusst wahrgenommen, hat aber dennoch ein Gefühl ausgelöst (Einsicht ohne schlussfolgernde Überlegungen).

Beispiel Autounfall: Wir merken, ein Stück weit vor uns auf der Autobahn hat es gekracht. Das stellt für uns keine unmittelbare Gefahr dar, kann aber zu einer solchen werden, wenn wir nichts tun. Das zu erkennen ist keine Frage der Intuition, sondern der Intelligenz. Wir bewerten Information mittels unseres Verstandes und unserer Erfahrung.

Beispiel Selbstverteidigungssituation: Wir stehen an der Bar, und langsam erhöht sich die Lautstärke. Das kann daran liegen, dass die Musik und damit auch die Gespräche lauter werden. Es kann aber auch sein, dass sich eine Situation aufschaukelt. Bekommen wir das bewusst mit, bewerten wir die Situation auch bewusst (Intelligenz). Registrieren wir das nur unbewusst, ist es wieder eine Frage intuitiven Situationserfassung.

Bei allen drei Fällen sollten wir gleich reagieren: Alle Kanäle auf Aufmerksamkeit stellen. Im klassisch militärischen Bereich wäre das z.B. das Abknien des Soldaten, um sich nicht mehr um das Halten des Gleichgewichts kümmern zu müssen, sich dafür umso mehr auf den optischen Sinn und den Tastsinn in Hinblick auf Bodenerschütterungen konzentrieren zu können. Freilich wird man dabei auch als Ziel weniger prominent, zum Zwecke des Selbstschutzes wäre diese Analogie allerdings irreführend. In der Oper können wir bisweilen beobachten, dass manchen Zuschauer die Augen schließen, um sich auf das, was sie erfahren möchte, maximal hinwenden zu können. 2

Wenden wir diese Überlegungen auf unsere drei Beispiele an:

Im Falle des Terroranschlages wäre es nicht zu empfehlen, gleich loszurennen. Besser wäre es, sich zunächst umzusehen, um dann bewusst die Entscheidung zu treffen, dass eventuell die andere Richtung die sinnvollere Option wäre.

Im Falle des Autounfalls könnte sowohl eine Vollbremsung als auch das Bleiben auf dem Gas zu neuen Problemen führen. Stattdessen würde ich empfehlen, vorerst Gas weglassen und zu ermitteln, was da genau passiert bzw. ganz konkret durch einen Blick in den Rückspiegel herauszufinden, ob eine Bremsung wegen des Hintermanns ratsam wäre. Wir brauchen also möglichst viele Informationen, um möglichst schnell sinnvolle Entscheidungen treffen zu können.

Im Fall der Bar wollen wir uns zunächst einen Überblick verschaffen, um die Situation und die Menschen einschätzen zu können, ggf. schnelle Bewegungen oder erregte Gesichter, aufgesperrte Münder oder Augen aufzuklären. Vielleicht bestätigt sich unser Eindruck ja auch gar nicht.

 

Taktische Imperative für Ereignis-Hinweise:

  1. Alles auf Aufmerksamkeit stellen.
  2. So viele Informationen sammeln wie möglich.
  3. Nichts tun, was meine Lage verschlechtern könnte

„Von dem Angriff"

Die zweite Art an Hinweisen, die oft etwas näher am höchsten Gefahrenmoment wahrnehmbar wird, kann man als Angriffs-Hinweise bezeichnen, in der englischen Literatur auch „Pre-Attack-Indicators“ genannt. Wir sind hier natürlich bereits tief im Thema Selbstverteidigung, aber merken bereits, dass Selbstschutz tatsächlich ein Thema des Lebens ist, des Wahrnehmens und Entscheidens und nicht etwa des Kampfsports. Hier geht es also bereits um einen konkreten körperlichen Übergriff. Intuition (Einsicht ohne schlussfolgernde Überlegungen) spielt in dieser Phase weniger eine Rolle, gefragt sind Intelligenz oder Instinkt (vgl. Episode 29). Als Kurzer Rückgriff: Intelligenz bemühen wir, wenn wir etwas sehen oder anderweitig bemerken und es aufgrund unseres Könnens bewerten. Im Gegensatz dazu beschreibt ein instinktives Verhalten solche Handlungen, die durch Schlüsselreize über einen angeborenen Auslösemechanismus hervorgerufen werden können Streng genommen gibt es das beim Menschen nicht, dennoch bietet sich hier der Begriff an, um eine Unterscheidung der Phänomene auf Arbeitsebene zu ermöglichen.

Als erneutes Beispiel dazu begeben wir uns erneut an eine Bar. Wir drehen uns zur Seite und sehen jemanden in etwa fünf Meter Distanz, der uns mit den Augen fixiert und die Faust ballt. Auch wenn uns diese offensichtlichen Anzeichen aufgrund unserer Lebenserfahrung nichts sagen, werden wir dennoch intuitiv ein ungutes Gefühl entwickeln. Haben wir im Bereich der Selbstverteidigung das entsprechende Wissen, erkennen wir hier möglicherweise einen Hinweis auf aggressive Tendenzen, die sich gegen uns richten könnten und können bereits weit vor dem konkreten Übergriff taktische Überlegungen und Maßnahmen einleiten.

 

Taktische Imperative für Pre Attack Indicators:

Verlasse den Punkt X. Damit ist jener Punkt gemeint, wo der Übergriff aller Wahrscheinlichkeit und aus jetziger Betrachtung stattfinden wird. In unserem letzten Beispiel ist das direkt am Barhocker, auf dem wir gerade sitzen.

  1. Durch diese zielgerichtete Bewegung – auch ohne konkreten Anlaufpunkt –  werden wir aktiv und hemmen dabei auch die mögliche Entwicklung einer Angststarre, wie ich sie in Episode 11 meines Podcasts behandelt habe. Denn beinahe alle Informationen, die wir so nah am konkreten Übergriff sammeln, sind geeignet, extreme Emotionen bei uns auszulösen. Wir entscheiden uns stattdessen zum Handeln, hier vor allem dem Bewegen, und bleiben nicht in einer defensiven Rolle. Dieser Vorteil ist also ein psychologischer und taktischer zu gleichen Anteilen.
  2. Entwickelt sich die Situation außerdem sehr plötzlich, ist es natürlich günstig, wenn wir uns nicht mehr an dem Punkt befinden, an dem uns das Gegenüber als Ziel festgestellt hat.
  3. Wir stellen Klarheit hinsichtlich der Situation her. Ist tatsächlich Gefahr gegeben oder haben wir uns geirrt? Gegebebenfalls ist ihm jemand auf den Fuß getreten, was das offensichtlich wütende Gesicht zu einem schmerzverzerrter erklärt und auch die geballte Faust in einen Kontext stellt. Sind überhaupt wir gemeint? Folgt uns das Gegenüber mit seinem Blick oder geht bzw. rennt er auf uns zu, wissen wir, es geht um uns. Hat er jemanden hinter uns fixiert, klären wir unseren Irrtum über das diagnostische Bewegen auf.

Anmerkung Stefan: Durch meine Arbeit an Schulen und am Universitäts-Sportinstitut habe ich sehr viel mit Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen zu tun, die sich bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht viele Gedanken zum Thema Selbstverteidigung gemacht haben. In der Diskussion wird regelmäßig das Problem angesprochen, dass viele Menschen zwar feststellen, dass gerade etwas nicht stimmt, aber dennoch nicht aktiv werden. Durch diese Gespräche und durch den Gedankenaustausch mit Richard Dimitri konnten wir bislang 6 Gründe dafür ausfindig machen:

  1. Was soll sich der andere bloß von mir denken?
  2. Es ist alles in Ordnung, ich würde übertrieben reagieren.
  3. Mein Ego steht mir im Weg.
  4. Ich erkenne die Möglichkeit (das Verlassen des Punktes X) einfach nicht.
  5. Ich habe die Befürchtung, durch mein Aktivwerden die Situation zu verschlimmern.
  6. Routine: Jede Abkehr von einem gewohnten Ablauf oder von einem gefassten Entschluss ist mühsam und erfordert viel Initiative.

Die Punkte 1 und 2 werden in erster Linie von Mädchen und Frauen genannt, Punkt 3 ist im Regelfall ein männliches Problem. 4 und 5 lassen sich nicht eindeutig zuordnen.

Vor dem „Kontakt"

Die dritte Art der Hinweise sind Vorkontakt-Hinweise, die mein Mentor Tony Blauer erstmalig als „pre contact cues“ getauft hat. Manchmal werden sie auch als „Pre Fight Indicators“ bezeichnet. Ich persönlich finde diesen Terminus allerdings irreführend, weil ein gewalttätiger Übergriff noch keinen Kampf ausmacht, beispielsweise bei wehrlosen Opfern von Gewalt wie Kindern oder Pflegebedürftigen. Wir befinden uns jetzt bereits im unmittelbaren Augenblick vor der Gewalttat. Wichtig dabei ist nicht nur das Erkennen und Verstehen, sondern auch die Reaktion darauf. Die Vorkontakt-Hinweise unterscheiden sich in wenigen Merkmalen davon, wie man sich normalerweise in einer konfrontativen Situation verhält. Einige konkrete Beispiele möchte ich liefern:

  • Zurücknehmen und Absenken der Schulter
  • Zurücksetzen eines Beines zur Athletikoptimierung
  • Vorstrecken des Nackens
  • Heben des Ellbogens
  • Supination des Unterarms
  • Ballen der Faust
  • Über die Schulter blicken

Taktische Imperative für Vorkontakthinweise:

Aufgrund der zeitlichen Nähe zum konkreten Einschlag sollten kognitive Prozesse reduziert werden auf das Minimalpaar Handeln/Nichthandeln. Diese Handlungsskripte liegen bestenfalls als Elementartaktiken in die Richtungen Präemption und Reaktion vor. Eine Elementartaktik ist eine willkürliche und für die Entwicklung der Lage wünschenswerte Maßnahme, die wir auswendig gelernt haben und die im besten Fall auch zum aktuellen Problem passt, aber nicht auf externe Faktoren wie Tageszeit, Umwelteinflüsse Rücksicht nehmen muss (vgl. Episode 19 meines Podcasts).

  1. Präemption: Das kann man auch Erstschlag nennen (vgl.Podcast Episode 7). Ich persönlich halte weniger davon, präemptive Maßnahmen nur als schlagende oder tretende Optionen wahrzunehmen, da es den meisten nicht möglich sein wird, das Gegenüber effektiv zu treffen oder über diese gewisse innere Hürde zu springen, einem Menschen richtig fest ins Gesicht zu schlagen nur aufgrund des Gefühls, es geht vielleicht gleich los. Sollten wir uns dabei irren, haben wir Probleme. Nicht zuletzt herrscht ein absoluter Präzisionsleistungsdruck aufgrund des schmalen Zeitfensters und den unumkehrbaren Auswirkungen auf die Entwicklung des Konflikts. Ein guter Kompromiss wären präemptive Maßnahmen, die schnell die Distanz vergrößern – ähnlich einem Schubser. Die größte Gefahr ist initial gebannt, aber selbstverständlich ist das Problem nur vertagt worden auf möglicherweise nur wenige Zehntelsekunden.
  2. Reaktive Optionen: Ein gutes Beispiel dafür ist das Three Point Cover. Jede „eher“ passive Maßnahme wird zwar nicht alle Probleme lösen, aber sehr viele. Zusätzlich ermöglichen diese Taktiken, sich im weiteren Verlauf der möglich Kampfhandlungen an die Intensität anzupassen. So ist es möglich, das Gegenüber zu kontrollieren und an ringerischen Techniken festzuhalten oder im schlimmsten Fall das Mobiliar oder gefährliche Gegenstände miteinzubeziehen. Selbstverständlich erfüllen auch andere Formen der Deckung und des Cover ihren Zweck. Damit solche reaktiven Maßnahmen greifen, ist ein tiefes Verständnis der Vorkontakthinweise nötig, die ein sehr frühes Bewegen ermöglichen. Ansonsten wird die Aktion des Gegenübers die erste sein und bekanntlich ist es sehr schwer, diesen Vorsprung aufzuholen. Sehr vereinfacht könnte man das Problem zusammenfassen als „Aktion schlägt Reaktion“. Es muss uns also gelingen, früher in Aktion zu kommen, indem wir auf sich möglichst früh ereignende Vorkontakthinweise reagieren. Zum Zeitpunkt des Übergriffs sind wir dann bestenfalls bereits in Aktion.

Zusammenfassung

Ähnlich wie auf einem Zeitstrahl haben wir verschiedene Hinweise, denen wir entsprechend der Nähe zum eigentlichen Übergriff (der Lage) verschiedene taktische Imperative zuordnen.

  1. Relativ weit weg sind die Ereignis-Hinweise. Intuition und bewertete Informationen sind unsere besten Chance, hier wieder vor die Lage zu kommen. Auf dieser Basis stellen wir gemäß dem taktischen Imperativ alles auf Aufmerksamkeit.
  2. Danach folgen die Angriffs-Hinweise. Relevant für uns sind instinktive Eindrücke und bewertete Information. Der wichtigste taktische Imperativ dazu lautet: weg vom X.
  3. Die zeitlich letzten Hinweise sind die Kontakt-Hinweise. Unsere taktischen Imperative dazu lauten entweder Präemption oder Reaktion im Sinne eines Minimalpaars von Elementartaktiken.
1Vgl. dazu https://www.YouTube.com/watch?v=ljI5VGZAh0A
2Wöstmann, M., Schmitt, L.-M., & Obleser, J. (2020). Does Closing the Eyes Enhance Auditory Attention? Eye Closure Increases Attentional Alpha-Power Modulation but Not Listening Performance. Journal of Cognitive Neuroscience, 32(2): 212-225

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