PRÄEMPTION
Tobias Brodala & Stefan Reinisch
Gepostet am 5. August 2024 von Tobias Brodala
Worum geht's
In manchen Combatives-Stilen wird das vorzeitige Schlagen als der heilige Gral betrachtet. Die universelle Lösung unbekannter und angsteinflößender Probleme. Klingt mächtig. In diesem Artikel möchte ich das Thema differenzieren.
Defining the Beast
Unter dem Begriff „Pre-emptive Striking“, auf Deutsch Präemption, versteht man die Kompetenz, zuerst zu schlagen, bevor der Gegner einen Angriff auf uns ausführen kann. Dieses Konzept ist ein wichtiger Bestandteil der Combatives. Es geht darum, nach dem ersten Schlag so lange und so heftig auf den Gegner einzuschlagen, bis die Gefahr beseitigt ist. Es ist die beinahe direkte Umsetzung des militärischen Leitprinzips für Immediate Action – Protokolle, also Notzugriffe: Speed – Aggression – Surprise. Das beschreibt eine ursprünglich militärische Herangehensweise, bei der Schnelligkeit, Aggressivität und Überraschung genutzt werden, um einen Gegner zu überwältigen und ihm keine Chance zur Reaktion oder Gegenwehr zu geben. Dieses Prinzip sollen sicherstellen, dass die Initiative übernommen wird und behalten bleibt während der Gegner aus dem Gleichgewicht gebracht wird.
Attraktiv isses ja
Zu den Vorteilen dieser Methode in der Selbstverteidigung zählen vor allem das Überraschungsmoment, das auf unserer Seite liegt, da unser Gegner nicht mit einem solchen Vorgehen rechnet. Zudem müssen wir nicht auf den eigentlichen Angriff reagieren, sondern auf sogenannte „Pre-contact cues“ oder Vorkontakthinweise. Darunter versteht man Verhaltensweisen des Gegners, wie Gestik, Mimik oder Worte, die ein hohes Verdachtsmoment für einen unmittelbar bevorstehenden Angriff darstellen. Idealerweise ermöglicht uns diese Vorgehensweise eine schnellstmögliche Flucht, ohne dass wir fürchten müssen, zu Boden gebracht zu werden, dass der Gegner gefährliche Gegenstände einsetzt oder sich andere Personen einmischen.
Offensichtliche Probleme
Jedoch gibt es auch bedeutende Fallstricke, die nicht unbeachtet bleiben dürfen. In den seltensten Fällen deckt sich diese Art der Selbstverteidigung mit unserer Lebensrealität. Nur wenige Konflikte eskalieren derart, dass es notwendig ist, jemanden niederzuschlagen und wie ich in diesem Artikel bereits beschrieben habe, ist das gar nicht mal einfach oder wahrscheinlich. Zudem ist dieses Konzept eine Einbahnstraße: Hat man erst einmal mit dem Pre-emptive Striking begonnen, gibt es kein Zurück zur Deeskalation oder zu weniger intensiven Maßnahmen. Für Personen ohne große Erfahrung in körperlichen Auseinandersetzungen kann es schwierig sein, den sogenannten „Go-Moment“ zu identifizieren, also den Moment, in dem eine Aktion eingeleitet werden soll. Aus der Zuschauerperspektive mag dies wie üblich leichter erscheinen als in einer tatsächlichen Konfrontation.
The Mind navigates the Body
Sind wir in der Lage, einem anderen Menschen mit voller Kraft ins Gesicht zu schlagen, oder zögern wir? Im Gegensatz zum Einsatz im militärischen Kontext fehlt dem zivilen Anwender die charakterliche und körperliche Prüfung durch Eignungsfeststellung, Ausbildung und kontextuelle Befähigung. Es besteht zudem das Risiko, dass der erwartete Effekt nicht eintritt und der Gegner stattdessen noch aggressiver wird.
Das Argument des Totschlags
Das Konzept des Präemption erfordert intensives Training, da es wichtig ist, Vorkontakthinweise zu erkennen, die Schlagtechnik zu beherrschen und die juristische Argumentation zu bedenken. Die rechtliche Dimension ist auch nicht zu unterschätzen: Eine präventive Maßnahme kann juristisch begründet werden, doch kann das im Einzelfall eine große Herausforderung darstellen. Besonders heikel wird es, wenn der Gegner durch den Schlag tatsächlich verletzt wird oder, was noch wahrscheinlicher ist, durch einen Sturz infolge des Schlages eine Kopfverletzung erleidet oder gar zu Tode kommt. Damit eng verbunden stehen psychische Implikationen: Kannst du damit leben, jemanden aufgrund einer Annahme verletzt oder gar getötet zu haben?
Repräsentativitäts-Fuckup
Abschließend möchte ich ein grundlegendes Problem dieser Taktik thematisieren: ihre eingeschränkte Anwendbarkeit. Nach über zehn Jahren in der Lehre und zahlreichen Analysen von Videos, Zeugenberichten und Erlebnisprotokollen kann ich feststellen, dass ich noch nie eine Konstellation vermerkt habe, in der sich eine Person, die tendenziell als Opfer anzusehen ist, mittels Präemption wirksam gegen eine Person, die tendenziell als Täter zu betrachten ist, zur Wehr setzen konnte. Damit möchte ich nicht sagen, dass es keine Situationen gibt, gab oder geben wird, in denen derjenige gewinnt, der den ersten Schlag ausführt. Vielmehr ist es in der Regel so, dass derjenige, der zuerst zuschlägt, ohnehin offensichtlich die gefährlichere Person ist. Der Empfänger des Erstschlags befand sich oft aus verschiedenen Gründen, wie etwa Alkohol, unübersichtlichen Situationen oder Zuständen der Verwirrung, in einem erheblichen Irrtum über die Gefährlichkeit des initialen „Opfers“. Dies macht diese Taktik nicht per se unattraktiv, aber wahrscheinlich einfach nicht praktikabel für Personen, die das Bedürfnis haben, Selbstverteidigung zu erlernen.
Taktische Kompromisse
Erstens, lege besonderen Wert auf die Schlagmechanik. Denn nicht nur macht das diese Taktik funktionaler, vor allem ergeben sich übertragbare Fertigkeiten für so gut wie alle anderen Taktiken des physischen Selbstschutzes. Menschen gut schlagen zu können ist eine extrem potente Kompetenz.
Zweitens, denke an eine Rückfallebene. Wie kannst du darauf reagieren, wenn der Gegner trotz deiner Erstmaßnahmen nicht defensiv bleibt, sondern seinerseits in die Offensive geht? Mit anderen Worten: Mache Sparring. Lerne Kämpfen und verwirf am Ende durch die Erfahrungen, die du im Sparring machst, die Idee, dass du eine andere Person einfach präemptiv ausschalten kannst.
Drittens, übe Szenarien mit Schwerpunkt auf den „Go-Moment“. Du muss sicherstellen, dass du eine fundierte Annahme treffen kannst, um eine präventive Aktion einzuleiten. Vielleicht bist du selbst auch schon auf die Idee gekommen, dass das nämlich kein Schlag, sondern auch ein Wort, ein Schritt oder die Bewaffnung mit Elementen deiner unmittelbaren Umwelt sein könnte. Bleib schlau, bleib sicher.