Kernspecht, K. R. (2004). Der Letzte wird der Erste sein: Das Geheimnis effektiver Selbstverteidigung. Wu Shu-Verlag.
Ich wollte mit diesem Buch meine persönliche Auseinandersetzung mit der EWTO und der Person Keith R. Kernspecht abrunden. In gewisser Weise sehe ich in diesem Werk den abschließenden Teil einer inoffiziellen WingTsun-Trilogie: Vom Zweikampf als grundlegendes Werk, BlitzDefence als zeitgemäße Anwendung – und schließlich dieses Buch mit seinem biblisch anmutenden Titel als übergreifende, beinahe philosophische Reflexion. Während ich gerade an der Zusammenfassung für unseren Buchclub arbeitete, erreichte mich die Nachricht vom plötzlichen und unerwarteten Tod des Autors. Aus Respekt – und vielleicht auch, um selbst etwas Abstand zu gewinnen – habe ich die Beschäftigung mit diesem Werk und unsere gemeinsame Arbeit im Buchclub zunächst ruhen lassen. Mittlerweile ist etwas Zeit vergangen. Vielleicht ist nun der Moment gekommen, einen erneuten, neutraleren Blick auf das zu werfen, was Großmeister Kernspecht uns mit diesem Buch hinterlassen hat.
First of, das ist kein Lehrbuch für Kampfkunsttechniken, sondern eine Mischung aus autobiografischer Reflexion, spirituell geprägter Lebensphilosophie und Kampfkunstkultur. Das Buch verfolgt kein klassisches Argumentations- oder Lernziel, sondern ist ein vielstimmiger Essay über innere Entwicklung, Autorität, Eitelkeit. Irgendwie auch über das Verhältnis zwischen Lehrer und Schüler und das Streben nach Meisterschaft im allerweitesten Sinne.
Der Titel nimmt Bezug auf das biblische Gleichnis vom letzten Platz in der Rangordnung – diese grandiose Metapher nutz Kernspecht vermutlich, um sein zentrales Thema zu entfalten: Die wahre Entwicklung eines Menschen. Ob im Kampf oder Leben, die beginnt mit Demut, Auflösung des Egos und einer Hinwendung zu höheren Prinzipien. In verschiedenen Kapiteln berichtet er aus seinem Leben als Kampfkünstler, Trainer, Unternehmer, Philosoph und manchmal auch als ziemlich Verirrter. Er bietet uns unfassbar viele, lose miteinander verbundene Anekdoten oder Reflexionen über eigene Fehler, Einsichten über Macht und Missbrauch, über das Wesen echter Lehre und die Grenzen klassischer Pädagogik, wie er sie wahrnimmt.
Die Kapitel sind thematisch äußerst locker verbunden, im Stil wechselhaft, mal tagebuchartig, mal wie ein Traktat oder Dialog mit dem Leser. Zentral ist Kernspechts wiederholte Forderung nach echter Hingabe an einen Entwicklungsweg, der Kampfkunst nicht als reines Techniktraining, sondern als Persönlichkeitsarbeit versteht. Insofern ist er sehr bei sich. Darin liegt auch eine Stärke des Buches: die Unmittelbarkeit und Offenheit. Kernspecht gewährt tiefe Einblicke in seine Denkweise, zeigt Brüche, Widersprüche und Lernprozesse, auch solche, die unbequem sind. Für Leserinnen und Leser, die selbst auf einem persönlichen Entwicklungsweg sind oder sich für die philosophischen Dimensionen von Kampfkunst interessieren, bietet das Buch einige Denkanstöße. Auch die wiederholte Betonung von Ego-Arbeit, Schüler-Lehrer-Dynamik und Kernspechts Vorstellung von echter Reife hebt das Buch von vielen „Kampfkunstratgebern“ ab, in deren Kategorie ich dieses Buch dennoch einordnen würde. Für manche ist das sicher wohltuend und andere fragen sich vermutlich bis zum Ende, worum es hier gehen soll. Wenn von Lesenden erkannt, finden sich stets Bezüge zu spirituellen Lehren (z. B. Gurdjieff, Krishnamurti, Zen), was solche Personen mit Interesse an transzendenter Persönlichkeitsentwicklung ansprechen dürfte.
Trotz seiner interessanten Perspektiven weist das Buch auch ein paar Schwächen aus wissenschaftlicher und didaktischer Sicht auf. Für ein Werk, dessen Autor selbst akademische Meriten beansprucht, ist das Buch erstaunlich unsystematisch. Es fehlen stringente Argumentationen, klare Begriffsdefinitionen oder nachvollziehbare Bezüge zu Forschungsliteratur. Besonders auffällig: Im Literaturverzeichnis finden sich neben Büchern auch vage Hinweise auf Fernsehsendungen, deren Titel oder Sendeanstalten nicht mehr bekannt sind. Beim erstmaligen Lesen fand ich durchaus die ein oder andere beinahe humorvolle, weil schwer irritierende, Fußnote zur Selbstinszenierung des Autors. Insgesamt entsteht der Eindruck, dass persönliche Erfahrungen und Meinungen häufig den Platz systematischer Reflexion einnehmen.
Kernspecht schreibt über Kampfkunst, aber blendet die gesellschaftliche Realität von Gewalt weitgehend aus. Was fehlt, ist eine klare Abgrenzung zwischen Gewalt als Ausdruck von Machtmissbrauch und dem legitimen Einsatz körperlicher Mittel zur Selbstverteidigung oder Selbstbehauptung. Durch die heroisch aufgeladene Sprache, die starke Faszination für charismatische Autorität und Meisterfiguren sowie die oft unkritische Darstellung von Disziplin und Gehorsam droht eine gewaltromantisierende Grundhaltung. Der reale Kontext von Gewalt, etwa ihre psychologischen und sozialen Folgen, wird weitgehend ignoriert.
Während das Buch für eingefleischte Anhänger des WingTsun-Kosmos sicherlich viele vertraute Motive bedient, bleibt unklar, an wen sich das Buch eigentlich richtet. Für Anfänger ist es zu diffus, für Wissenschaftler zu unsauber, für Praktiker zu abstrakt. Wer allerdings an charismatisch gefärbter Kampfkunst-Philosophie interessiert ist und ein Faible für Persönlichkeitsentwicklung im weitesten Sinn hat, findet hier ein provokantes, manchmal irritierendes, aber keinesfalls langweiliges Werk.
„Der Letzte wird der Erste sein“ ist ein Buch, das man nicht wegen seiner Fakten oder seiner Argumentationslogik liest, sondern wegen seiner Stimme. Keith R. Kernspecht spricht als Suchender, als Selbstkritiker und als Mensch, der über Jahrzehnte hinweg eine Bewegung geprägt hat, und zwar mit all ihren Licht- und Schattenseiten. Wer sich für die Innenwelt von Menschen interessiert, die mit Kampfkunst ihr Leben gestalten (und gelegentlich inszenieren), kann von der Lektüre profitieren.
Gleichzeitig sollte man sich der Begrenzungen des Buches bewusst sein: Es ersetzt keine faktenbasierte Auseinandersetzung mit Gewalt, es bietet keine systematische Lehre und es trägt teilweise fast kultische Züge in der Darstellung von Lehrer-Schüler-Verhältnissen. Wer darüber hinwegsehen kann, findet ein Stück authentische – wenn auch hochgradig subjektive – Kampfkunstliteratur.
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