Kernspecht, K. R. (2001). Vom Zweikampf: Strategie, Taktik, Physiologie, Psychologie, Philosophie und Geschichte der waffenlosen Selbstverteidigung (15. Aufl.). Wu Shu-Verlag.
Vermutlich wird diese Rezension keine Kaufentscheidung beeinflussen. Dafür sind die Interessenlager zu polarisiert: Manche werden diese Literatur aus Prinzip meiden und für manche ist es das Wahre Wort, unantastbar und der Reflexion nicht wert. Dazwischen gibt es möglicherweise noch diejenigen, die es einfach nicht kennen. Das sind vermutlich wenige. Melde dich mal in den Kommentaren bezüglich deiner Zugehörigkeit.
Keith Ronald Kernspecht ist eine richtig prominente Figur in der Kampfkunstszene. Insbesondere als Begründer seiner European WingTsun Organisation (EWTO) hat er maßgeblich zur Verbreitung der südchinesischen Kampfkunst WingTsun (eigene Schreibweise) beigetragen. Vermutlich könnte man sich an dieser Stelle auch einem Diskurs zur akademischen Tiefe besonderer Doktorwürden widmen. Aber ich habe gar keine und es geht hier auch viel mehr um das Niedergeschriebene anstatt dessen Marketing. Damit wäre meine grundsätzliche Bewertung hier auch in einem Nebensatz erwähnt. In seinem Buch Vom Zweikampf widmet Kernspecht sich der sehr ambitionierten Herausforderung, den Zweikampf als komplexes, mehrdimensionales Phänomen zu erklären, das körperliche, mentale und strategische Aspekte umfasst. Je objektiver der Leser dabei an dieses Werk herangeht, desto eher fällt ihm auf, dass das Buch in seiner Tiefe und Klarheit gewisse Schwächen aufweist, die für Fachpersonal mit einem differenzierten Verständnis von Gewalt als multidimensionalem Phänomen besonders ins Gewicht fallen.
Kernspecht legt in seinem Werk Wert darauf, Zweikampf nicht nur als körperlichen Austausch von Schlägen zu betrachten, sondern als eine strategisch und psychologisch aufgeladene Begegnung. Diese Herangehensweise, Zweikampf als Kombination aus Strategie, Taktik, Physiologie, Psychologie und Philosophie zu behandeln, ist zweifellos interessant und eröffnet dem Leser verschiedene Perspektiven. Kernspecht spricht über die Notwendigkeit, die Absichten des Gegners zu durchschauen und die eigene Psyche unter Kontrolle zu halten, was an sich bedeutsam ist. Zudem streift er Themen wie die ethische Dimension von Gewaltanwendung und beschreibt sie als Teil eines größeren moralischen Rahmens. Für jemanden, der Gewalt als umfassendes soziales und psychologisches Phänomen betrachtet, könnte dies zunächst ansprechend klingen, doch bleibt das Buch in seiner Behandlung dieser Dimensionen tatsächlich eher oberflächlich.
Ein zentrales Problem ist die Tendenz des Buches, wichtige Themen zwar zu erwähnen, sie jedoch lediglich anzureißen, ohne tiefergehende Einblicke oder spezifische Handlungsempfehlungen zu geben. Dies zeigt sich besonders in der Diskussion der strategischen und taktischen Elemente des Kampfes. Kernspecht betont die Bedeutung von Strategie und Taktik im Kampf, geht jedoch kaum detailliert auf die konkreten Anwendungsformen dieser Konzepte ein. Er verweist darauf, dass man den Kampf „denken“ müsse und den Verlauf bewusst beeinflussen solle, aber die Beschreibungen bleiben oft theoretisch und wenig greifbar für Leser, die eine konkrete Anleitung erwarten. Diese Herangehensweise könnte besonders für erfahrene Kampfsportler enttäuschend sein, die hoffen, tiefere Einblicke in die Methodik und die praktischen Umsetzungen solcher Konzepte zu erhalten.
Auch in der psychologischen Dimension des Zweikampfes bleibt das Buch an der Oberfläche. Während Kernspecht die Bedeutung mentaler Stärke und emotionaler Kontrolle hervorhebt, etwa um Angst oder Unsicherheit im Kampf zu überwinden, fehlt es an einer fundierten Analyse dieser Faktoren. Für jemanden, der sich tiefer mit der Psychologie der Gewalt oder mit Mechanismen wie Stressbewältigung und Entscheidungsfindung unter Druck auseinandersetzen möchte, bietet das Buch wenig Substanz. Diese Themen werden in relativ kurzen Abschnitten behandelt und wirken eher wie allgemeine Empfehlungen als wie ein strukturiertes System psychologischer Prinzipien, die im Zweikampf nützlich sein könnten.
Besonders deutlich wird die Oberflächlichkeit in der philosophischen und ethischen Behandlung von Gewalt im Kontext des Zweikampfes. Hier scheint Kernspecht Denkanstöße zu geben, die für Leser mit einem Interesse an der ethischen Reflexion von Selbstverteidigung relevant sein könnten. Doch auch hier bleiben die Ausführungen eher allgemein und gehen nicht tiefer auf die moralischen Dilemmata ein, die mit der Gewaltanwendung einhergehen. In der Praxis werden Leser eher mit persönlichen Ansichten des Autors konfrontiert, ohne dass ein umfassendes ethisches oder philosophisches Fundament dargelegt wird, das über Kernspechts subjektive Sichtweise hinausgeht.
Die Neuauflage Vom Zweikampf Revisited geht auf einige inhaltliche Schwächen des Originals ein. Kernspecht betont zwar verstärkt den philosophischen und psychologischen Ansatz, bleibt aber nach wie vor stark in der Perspektive des Zweikampfs verhaftet. Zwar wird das Thema Selbstverteidigung etwas breiter interpretiert, jedoch konzentriert sich das Buch weiterhin hauptsächlich auf ritualisierte, konfrontative Kampfsituationen, während moderne Gewaltformen – wie z.B. soziale und psychische Gewalt – eher marginal behandelt werden. Auch der wissenschaftliche Tiefgang und die interdisziplinäre Abdeckung bleiben im Vergleich zu neueren Veröffentlichungen im Bereich Selbstverteidigung und Gewaltprävention hinter den Erwartungen zurück. Die Einbindung moderner psychologischer Erkenntnisse bleibt selektiv, und viele Aspekte werden zwar angesprochen, aber nicht tiefgreifend diskutiert. Letztlich führt dies dazu, dass der Fokus des Buches weiterhin eingeschränkt bleibt und die tiefere Behandlung der sozialen Dynamiken und der Prävention von Gewalt weniger präsent ist.
Ein wenig auffällig ist die schwache Struktur des Buches. Die Kapitel sind teilweise sprunghaft und wirken fragmentarisch, was das Lesen und Verstehen erschwert. Für Leser, die eine logisch aufgebaute, systematische Einführung in das Thema erwarten, ist diese Vorgehensweise nicht optimal. Das würde insbesondere Anfänger verwirren, die versuchen, Inhalte nachzuvollziehen und in der Praxis anzuwenden. Die eher unstrukturierte Darstellungsweise verfehlt die Erwartungen an ein Handbuch, das ein klarer Leitfaden für Theorie und Praxis des Zweikampfs sein soll.
Wie in der Einleitung erwähnt ist Vom Zweikampf in vielerlei Hinsicht ambitioniert, indem es versucht, ein breites Spektrum an Aspekten des Zweikampfes zu vereinen. Die Absicht, körperliche Techniken, psychologische Prinzipien und ethische Überlegungen zusammenzuführen, ist lobenswert. Jedoch gelingt es Kernspecht nur bedingt, diese Ansprüche überzeugend zu erfüllen. Für Leser, die eine umfassende und fundierte Auseinandersetzung mit der Vielschichtigkeit des Zweikampfs erwarten, müsste das Buch unbefriedigend sein. Es bietet über das Mittel der Oberflächlichkeit großen Anlass zu Beifall, weil Nachvollziehbarkeit leicht gelingt. Jedoch fehlt eben jene Tiefe, die einen praktischen Nutzen ermöglichen würde. Der Leser könnte sich am Ende fragen: „Was gelingt mir jetzt leichter?“. Das Buch beantwortet diese Frage nicht.
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Jeder hat dieses Buch. Zumindest wenn man ab den 90er Jahren WT gemacht hat. Persönlich hab ich es als eine bezahlte erweiterte Werbebrochüre gesehen.
Du sagst es, Robert. Trifft auf mich auch vollständig zu und ich hatte beim erneuten Lesen auch durchaus wieder diese nostalgischen Gefühle aus der EWTO Zeit. Damals hat man auch diese Werbung ja gerne gelesen. Hat für die eigene Sache geworben.